Krieg an den Börsen, Ringen um Identität

Kathrin Rögglas »Machthaber« und Philipp Löhles »Nullen und Einsen« am Staatstheater Mainz

  • Volker Trauth
  • Lesedauer: 3 Min.

Mit der Ur- bzw. deutschen Erstaufführung zweier Gegenwartsstücke will das Staatstheater Mainz die Auswirkungen der Krise auf den Einzelnen in den Blick nehmen. Kathrin Röggla knüpft mit den »Machthabern« an Grundabsichten ihrer früheren Stücke an: schwer durchschaubare gesellschaftliche Prozesse zu übersetzen in ein konzertantes Echo aus Meinungen, Stimmungen und Behauptungen.

Wieder treten Textträger ohne individuelles Profil auf. In einer kargen Bürolandschaft geraten »der eine«, »der andere«, »er« und »sie« in eine Auseinandersetzung. Sie interpretieren den Wortlaut eines E-Mail-Verkehrs zwischen einem unsichtbaren »Ich« und dessen Anklägern, die ihm vorwerfen, durch gewagte Transaktionen den Tsunami ausgelöst zu haben. Der verteidigt sich, in dem er den Beleidigern vorwirft, am »kapitalistischen Experiment« freiwillig teilgenommen zu haben.

Mit solch indirekter Charakterisierungstechnik werden nacheinander Banker, Unternehmer und Politiker aufgerufen. Benutzt wird die aggressive Sprache des Börsenkrieges. Von bevorstehender Köpfung ist die Rede, von Selbstmordlisten und vom Verlassen des »Weltuntergangsbootes«. Politiker machen das dumme Wahlfußvolk verantwortlich und ein Notenbankchef verkündet, dass ein großes Beben vor der Tür steht.

Regisseur Johannes Schmit hat vergeblich versucht, den kopflastigen Text theatralisch aufzubrechen. Er stellt die Textlieferanten mit Ballettkleidung und Rokokokostümen auf einen hell erleuchteten Laufsteg. Über den kriechen, trippeln, schweben und tanzen die Akteure. Sie deuten Raubtiergesten an und flüchten wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen. Unter Textaufsagen studiert ein Ballettsolist mit wechselnden Partnerinnen Hebefiguren ein, an anderer Stelle führen vier Tänzer beim Reden die immer gleichen Bewegungen aus. Als Politiker kleben die vier Sprecher an einer zäh-klebrigen Masse fest, während ihren Mündern zäh-klebrige Phrasen entfleuchen.

All solcher Schnickschnack aber kann die von Schauspielern kreierte dramatische Figur mit konkretem Hintergrund und konkreter Wirkungsabsicht nicht ersetzen. Schauspielerische Gestaltung kommt nur in Spurenelementen vor. So, wenn sich Aram Tafreshian in die Rolle des unsichtbaren »Ich« hineinversetzt und vor Stolz fast platzt, so dass man ihm allein die Verursachung des Tsunami zutraut.

Vom Finanzmarkt ist auch in Philipp Löhles Stück »Nullen und Einsen« die Rede. Stabilität sei seine Überlebensvoraussetzung. Für die Figuren in Löhles Stück ist aber Stabilität eine Schreckensvorstellung, gleichbedeutend mit Erstarrung. Sie wollen heraus aus ihrer Haut, hinein in eine neue Identität. Der Zahlenanalytiker Moritz sucht nach einer Formel für die Errechenbarkeit der Welt und der eigenen Zukunft. Diese ihm von einem Obdachlosen verratene Formel stürzt ihn und seine Partnerfiguren aber ins Chaos. Er verdreifacht sich, weil gleich zwei seiner Zeitgenossen ihm mit den Papieren die Identität rauben. Entsetzt muss er feststellen, dass er sich selber abhanden gekommen ist. Alles läuft aus dem Ruder: ein Professor verliert sein Gedächtnis, die Exfreundin kann Original und Klone nicht mehr unterscheiden.

Philipp Glogers Inszenierung ist zweifelsohne ein Talentbeweis. Er stellt die einzelnen Ereignissplitter nicht unvermittelt nebeneinander, sondern verwebt sie zu einem Handlungsteppich von Vorgängen in einer aus den Fugen geratenen Welt. Im Realen sucht er das Absurde und im Absurden das Reale. Seine besten Momente hat die Inszenierung, wenn sich die vielen Umwandlungen und Mutationen zu einer wahren Orgie des Missverstehens aufgipfeln. Wenn Moritz (Felix Mühlen) mit tragischer Vergeblichkeit gegen den drohenden Identitätsverlust ankämpft und sich entsetzt vorstellt, er rufe zu Hause an und ein anderes Ich gehe ans Telefon, dann erinnert das an den Entsetzensschrei des Grafen Wetter vom Strahl aus dem »Käthchen von Heilbronn«: »Hilfe, ich bin doppelt«.

Im Gegensatz zur Inszenierung von Kathrin Rögglas »Machthaber« gewinnen hier die Schauspieler ein unverwechselbares Eigenleben - auch Mathias Spaan als der Mediziner Jonas, der sich Moritz' Identität erschwindelt hat und nun mit geschwollener Stirnader darum kämpft, in seine alte zurückkehren zu können.

Insgesamt zwei unterschiedlich gelungene Versuche, das »Phantom Krise« ins Bild zu zwingen.

Nächste Vorstellungen »Nullen und Einsen«: 25.3., »Machthaber«: 28.4.

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