... und die Herzen im Preise steigen

Claus Peymann inszenierte am Berliner Ensemble »Kabale und Liebe«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Liebe macht aus der Erde einen Wendekreis: Alles dreht sich, verkehrt sich, wendet sich. Wer liebt, steht aber auch im Zerrkreis, als wär's ein kaukasischer: Außen rupft am Innen, und Innen verbarrikadiert sich - die Welt stört, immer. Liebende wagen sich zudem in einen Stromkreis: Elektrizität - der Widerstand gibt auf. Aber Aufgeladenheit, wie soll man damit eigentlich existieren? Liebe: In Hochspannung aufflammen, unter Hochspannung niederbrennen? Willkommen im Teufelskreis.

Auf die Bühne des Berliner Ensembles ist ein weißer Kreis gezeichnet. Drüber ein ebenso runder Himmel aus Scheinwerfern. Ja, der Schein wirft. Wirft Licht, wie man was lustvoll ins Feuer wirft: Schau, wie sich's aufbäumt, kringelt, wie's seltsame Formen bildet, im Glühen sich krümmt, dann niedersinkt in die eigene Asche. Der Scheinwerferkreis ein Lichtkerker. Und die Inszenierung: ein Leidenschaftslabor, karikativ ausstaffiert. Mit Stühlen, die an Stricken hängen und nach Bedarf herabgelassen werden. Mit Holzschnittgestalten, die an Dichters Stricken hängen und nach Bedarf aufeinander losgelassen werden. Spielfiguren eines unwirklichen Experiments.

Denn wer will denn wirklich noch ernst nehmen, dass der liebende Ferdinand von so einem blöd fingierten Brief seiner liebenden Luise aus der Vertrauensbahn geworfen wird, einem Brief, den das Mädchen ausgerechnet an einen Hofmarschall schrieb, der so heißt wie er aussieht: Kalb?! (Thomas Wittmann plusterdumm und plapperfix, beim Hüpfen staubt der Hohlkörper, im wahren Sinn des Wortes.) Und wer will weiter ernst nehmen, dass von zwei klugen jungen Menschen nicht durchschaut wird, wer als Intrigant ebenfalls so aussieht, wie er heißt: Wurm?! (Norbert Stöß mit Gaze überm Kopf und sehr spindeldürrbeinig, ein Mistkäfer.)

Friedrich Schillers »Kabale und Liebe« am BE: ja, die pure Unwirklichkeit. Kreis-Verkehr: Man reibt sich wund im Rund; der Mensch in der Manege; Regie: Claus Peymann, Bühne: Achim Freyer. Die beiden treffen sich in sehr spezieller Neigung: Jene Trauer über die Läuterungsohnmacht des Theaters - sie wird von ihnen trotzig-tapfer, trollig-drollig ins Clowneske gerettet; man ist der Moritat, die gernegrob ausstellt, eher zugetan als dem Psychodrama. Rezept: Man kann viele Bögen überspannen, einen Bilderbogen kaum, der hält viel aus. Theater als Verwandlung - des Zeigestocks in eine Wünschelrute, die im Konstrukt einer traurigen Harlekinade aber irgendwann doch erschütternde Lebenszeichen findet.

Lebenszeichen? L - wie Luise! Die ist umringt von Gespreizten, Geknebelten, Gebeutelten. Der Präsident von Walter auf Stelzen (Joachim Nimtz überzeugend hart, hämisch, hierarchiesouverän), der Musikus Miller (Martin Seifert) dagegen: gedrungen; Oben und Unten klar ersichtlich - also schaut, ihr Publikumskinder, so ist die Welt eingeteilt; wenigstens im Theater herrscht noch Deutlichkeit, wo das Leben die Unterschiede listig verwischt, um sie nur grausamer hineinzupressen in die Verhältnisse zwischen den Leuten.

Also, der Adel: Perücke, Bürgersfrau Millerin (Traute Hoess): strubbelig. Schwarz ist die Kostümfarbe der Kabale, weiß die Farbe der Unschuld - womit wir wieder bei Luise wären. Antonia Bill: Es gibt eine Anmut, die vom Tode nichts weiß, wo es doch längst ans Sterben ging. Und es gibt besagte Unschuld vom Lande, die aber kein Land sehen wird. Das Kirchenkreuzlein hängt ihr bezeichnend schief am Hals. Der ganze Glaube hängt hier schief. Bald liegt die Bibel am Boden, nicht unweit eines Schmuckkästchens. Religion bildet Paare, vor allem eines: Staat und Kirche.

Im Manegenkreis des Peymannschen Menschenmarionettentheaters: die Unbehaustheit zweier einander frei wählender Menschen. Was? Ferdinand und Luise frei? Wer liebt, gerät in die Fremde, weil er aus sich herausging. Und wo Ordnung herrscht (wo herrscht sie nicht!), wird sich niemand ganz in dem wiedererkennen dürfen, was er, scheinbar frei, mit seinem Leben anfängt.

Diese Luise der Antonia Bill: Da versucht ein Dasein, sich herauszureißen aus dem Vorbestimmten, aus dem ihm Zugewiesenen. Das Stürmische in ihr möchte und möchte, aber das Dämmende ist stärker; das Ungestüme will und will, aber die Verzweiflung ist ebenfalls stärker. Berührend, wie es der Schauspielerin gelingt, die Kraft und stille Tapferkeit dieses Mädchens von ständischer Verklemmtheit nicht vollends zu lösen. Aber Schiller schrieb ihr den schönsten Satz - gegen's Heute, das vor alles Preisschilder setzt, ein Satz der Hoffnung, dass Gott, also die bessere Zeit kommt, »und die Herzen im Preise steigen«. Das hört man und nickt und zürnt und trauert und hofft. Und kapituliert gern vor den Lügen der Kunst.

Erotische Heftigkeit freilich kann hier nicht stattfinden, denn im Grunde leidet Luise sehr allein - der Ferdinand des Sabin Tambrea leidet zwar auch, aber an etwas anderem, er bleibt nämlich auch als Liebender herrisch-launisch ein Besitzender. Erscheint Peymanns Inszenierung oft als ein Chor heller, mitunter gellender Stimmen, so ist Ferdinand am grellsten; das gibt ihm eine Hysterie, die harsch gegen das Mädchen drängt; eine abkanzelnde Obertonlage, die ganz aus dem Adel kommt, den er doch eigentlich luisenwärts verlassen will. Er nimmt Luise her, wie man sich etwas herausnimmt, was einem eh gehört - wenn man es nur inständig genug will. Er liebt Luise, ja, aber doch bitte ohne Betriebsstörung. Wie er die Stimme hochschraubt, schraubt er sich selber hinauf ins stechend Richtende. Irgendwie unsympathisch. Zu sehr?

Mag Ferdinand vielleicht selber nicht an diesen blöden »Liebes«brief der Angebetenen an den Albernheitsauswuchs namens Kalb glauben - aber es reicht ihm, dass da wer frech an jener Welt kratzt, die er gegen die Welt errichten will. Tambrea nimmt mit Schwung und Schärfe die etwas undankbare Aufgabe an: die aus Beleidigung wachsende Nervosität, das schnippisch Tastende des Verhörs, den zynischen Selbststolz.

Ach ja, die Milford noch: Schillers unglaublicher Akt adliger Entsagung, also die wundersame Verwandlung der Lady-Hure in eine Art weiblichen Marquis Posa. Katharina Susewind, auffällig jung für die Rolle, spielt diese Milford, als wolle sie lieber die Luise spielen. Das keckt die Gestalt auf, verjüngt sie noch mehr; Susewind ist ganz durchmürbte Würde, die sich aber langsam wieder aufrichtet aus Ohnmachtsposen - aber Jugend macht jene tiefe Enttäuschung, eine Missbrauchte, Gedemütigte zu sein, eben auch schnell verwindbar. Ebnet ein. Haltungswechsel der Milford, ja - aber kein Klippensturz aus einer verirrten Sehnsucht (Ferdinand zu lieben) in die neue errungene Erhabenheit eines Charakters.

Traute Hoess und Martin Seifert, Luises Eltern, eine grantige Ehe-Maschinerie, noch der Sand darin: geölt von Altersliebe. Seiferts Musikus, das ist ein Aufstand der bürgerlichen Würde - die den Mann jedes Mal wie etwas Ungewolltes überkommt und all seine Kraft kostet. So ist ja die Wahrheit: Ein Citoyen wurde aus dem deutschen Bürger nie. Dieser Miller ist immer mutiger, als ihm wohltut. Seifert schafft eine wunderbar leidende Figur, die lachen macht - und anrührt.

Der Schluss dann: schnell, wie man Limonade eben so hinunterkippt. Die letzte Manegennummer. Ach ja, eine Violine wurde noch zerschlagen. und die Scheinwerfer senken sich herab und wollen sich der Inszenierung vielleicht wie eine Dornenkrone um den Kopf winden. Auferstehung wird’s hier nicht geben. Schiller steht, das ist schon viel, aber er läuft mühsam. Er springt uns nicht an wie ein Wild. Er ist ein alt gewordenes Haustier des Theaters. Deutsches Stadttheater (nichts Schlechtes!): immer mal wieder Auslauf auch für die »Kabale«. Nun auch hier, wo man etwas fassungslos und ungläubig vor Brechts Satz steht, den das Programmheft zitiert: Dies Stück sei »atemberaubend«.

Peymann hat's trotzdem mit Sinn für Spannung und Rhythmus inszeniert, aber man möchte dem Trauerspiel für das Glück gratulieren, dass sein Autor Schiller heißt, so kommt es also noch immer davon. Ein wenig. Von besagtem Liebes-Teufelskreis wird man dennoch bedrängt: Wehe dem, der keinen anderen Menschen hat. Wehe aber auch dem, der im anderen Menschen eine Liebe erweckt, die sich als Macht über Leben und Tod missverstehen darf - Tod, der als Elementarteilchen mitten im Leben nistet. Aber der im Theater eine Kasperiade bleibt. Also: Trost. Mal mit Schiller, mal gegen dessen Pathos. Peymann schwankt.

Gesten groß in kleiner Welt. Tragödie unterm Dickstrich der Ironie. Figuren mit eingeschriebenem Distanz-Kommentar. Der Griff ins Existenzielle immer ein Griff in die Spielbude. Spielbude? Also: sehr ehrlich.

Nächste Vorstellung: 7. April

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