Leipziger Quantensprünge
Sächsische Messestadt ist plötzlich 1000 Jahre alt
Leipzig setzt mal wieder zum Überholen an. Montagsdemon-strationen mit umwälzendem Ausgang, Boomtown-Glitzer, Olympiaträume, Flughafenausbau, spektakuläre Investitionsdeals, Riesentropenhalle im Zoo, Ostdeutschlands erste Untertage-S-Bahn, Bilder-Hype in den USA dank Neo Rauch & Co - Leipzig, das jährlich um 10 000 Menschen wächst und mit 535 000 Einwohnern bereits den Stand von 1989 übertrifft, macht immer wieder von sich reden, auch wenn manchem Hoch wieder ein Tief folgte.
Die »New York Times« nannte Leipzig kürzlich gar »the better Berlin« (das »bessere Berlin«), zumindest für junge Kreative. Und das in London erscheinende Foreign-Direct-Investment-Magazin wählte Leipzig in der Studie »European Cities & Regions of the Future 2012/2013« gleich in drei Kategorien unter die »Top 10« der zukunftsträchtigen Städte Europas. Und nun steht der nächste Quantensprung an: 2015 feiert Leipzig sein 1000-jähriges Bestehen. Wie bitte? - so werden zumindest ältere Zeitgenossen kopfschüttelnd fragen. Beging die Stadt doch 1965 gerade einmal ihr 800-jähriges Bestehen.
Antwort darauf gibt es im Rathaus. Man verweist auf eine Notiz, die der Merseburger Bischof Thietmar anno 1015 signierte. Darin bezeichnete er die Ansiedlung an der Pleiße als »urbe libzi«. Mithin ist es Leipzigs urkundliche Ersterwähnung. Der Anlass für die 800-Jahr-Feier vor 48 Jahren gilt dagegen heute unter Historikern als strittig. Denn er bezog sich auf einen Brief des Meißener Markgrafen Otto des Reichen, der Leipzig darin das Stadt- und Messeprivileg zusprach - ausgestellt irgendwann »zwischen 1156 und 1170«, so Universitätsprofessor Enno Bünz. Derzeit werde hierzu noch geforscht.
Mittlerweile gibt sich Leipzig sogar schon ein 1000-Jahre-Jubel-Logo. Es zeigt eine Eins, die sich in drei Looping-artigen Nullen fortschreibt und damit für Dynamik und Aufwind stehen soll. Das Rathaus erwählte das Signet im Rahmen eines Wettbewerbes aus 18 Entwürfen. Zuvor hatten Marktforscher nicht nur Leipziger sondern auch Bürger anderer Städte - etwa Hannover und Dresden - nach der Wirkung der Himmelspirouetten befragt.
Doch statt allgemeiner Vorfeierfreude gibt es vorerst Zank und Vorwürfe im politischen Leipzig. Den einen ist die grafische Umsetzung des Logos zu schlicht geraten, anderen hat sie zu wenig Bezug zur Stadt selbst, dritte monieren, dass nicht die Einwohner über die Wort-Bild-Marke abstimmen durften. Die FDP interessiert zudem, wie viel der Ideenwettbewerb letztlich kostete - auch weil der Chef der siegreichen sächsischen Agentur im Januar bereits die Wiederwahl von Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) werbetechnisch gemanagt hatte.
Einige ganz Vorsichtige stören sich überdies an dem Slogan »Wir sind die Stadt« unter der Zahl. Denn so heißen auch schon zwei Fachbücher, zudem zogen letztes Jahr die Rostocker Grünen mit eben jenem Spruch in die Rathauswahl. Allerdings steht die Frage: Wer hat da von wem abgekupfert? Denn deutlich schimmert hier natürlich die Leipziger Montagsdemo-Parole durch: »Wir sind das Volk«. Auf einem anderen Blatt steht dabei, dass die Messestadt für eben jenes Motto keinen exklusiven Anspruch mehr besitzt, wie das Patentamt in München kürzlich befand. Auch gibt es gerade unter den Leipzigern, die im Herbst 1989 auf die Straße gingen, Probleme mit der heutigen Sicht auf jene Ereignisse. Immerhin lehnten schon vor Jahren drei Viertel der Einwohner die millionenschwere Zweitversion eines »Einheits- und Freiheitsdenkmals« in Leipzig ab - das Hauptmonument soll bekanntlich zum Ärger der Leipziger in Berlin stehen. Das Geld wäre für soziale Projekte besser aufgehoben, hieß es so stattdessen. Oder aber die Stadt solle dafür einen jährlichen Preis für Zivilcourage ausloben. So tat sich in Sachen Denkmal - trotz eines Ideenwettbewerbes mit teils grotesken Entwürfen - bisher praktisch nichts.
Vor diesem Hintergrund dürfte den Machern des 1000-Jahr-Logos mit dem Leitsatz »Wir sind die Stadt« eigentlich ein kluger Schachzug gelungen sei. Denn dieser führt den langsam verschlissenen Wendespruch letztlich auf das zurück, was die Bürgermetropole Leipzig seit je von gepudertem Residenzstadtdünkel unterschied: das Besinnen auf die eigenen Kräfte, auf Macherqualitäten und ein Selbstbewusstsein, das zuweilen schon etwas von Größenwahn hat. Und diese Mentalität dürfte den Leipzigerinnen und Leipzigern auch künftig nicht abhanden kommen.
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