Übernachten darf noch niemand

Die Kleinstadt Namie in der Sperrzone um das Atomkraftwerk Fukushima kann zumindest teilweise und kurzzeitig wieder betreten werden

  • Susanne Steffen, Tokio
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Bevölkerung wurde durch die Reaktorkatastrophe von Fukushima vertrieben, 80 Prozent des Stadtgebietes sind nach wie vor Sperrzone - doch in das Städtchen Namie kehrt nun mit der Öffnung des Zentrums wenigstens ein bisschen Normalität zurück.

Eingestürzte Häuser in der einst belebtesten Einkaufsstraße der Region; überall sind die Rollläden heruntergelassen; die Straßen sind menschenleer; die Ampeln stehen auf rot; in Küstennähe liegen noch immer rostige Schiffe am Straßenrand. »Überall geht das Leben weiter, aber in Namie ist die Zeit stehen geblieben«, klagt Namies Bürgermeister Tamotsu Baba (64).

Die ehemals 21 000 Bürger von Namie leben seit der Fukushima-Katastrophe im März 2011 verstreut in ganz Japan. Insgesamt mussten 160 000 Menschen in Folge des Atomunfalls ihre Heimat verlassen.

Seit einer Woche ist Namie offiziell keine Geisterstadt mehr. Die Tokioter Zentralregierung hat die Stadt entsprechend der tatsächlich gemessenen Strahlenwerte in Sektoren aufgeteilt: Das Stadtzentrum und die Küstengebiete, in denen vor der Katastrophe 80 Prozent der Einwohner gelebt hatten, sind nun tagsüber für jeden frei zugänglich. Nur übernachten darf noch niemand in Namie.

Die Stadtverwaltung kam als erste zurück, das alte Rathaus ist wieder besetzt. »Ich will gleich nach Hause gehen und alles vorbereiten, um mein Geschäft wieder zu eröffnen«, erklärte Yuji Akutsu einem japanischen Reporter. Der 42-Jährige betreibt in vierter Generation einen Holzfachhandel. Sein Geschäft liegt in der am wenigsten verstrahlten, jetzt geöffneten Zone. Zwar hat er längst ein neues Geschäft in der Nachbarstadt Soma eröffnet, in die er geflohen war, nachdem die Regierung sein Zuhause zur atomaren Sperrzone erklärt hatte. Doch Akutsu will trotzdem noch einmal einen Neustart in der alten Heimat wagen. »Namie ist ein wunderschöner Ort. Wir dürfen nicht aufgeben«, erklärt er.

Der dicht bewaldete westliche Teil der Stadt bleibt jedoch weiterhin gesperrt. Die Strahlung ist einfach zu hoch. Zwar lebte hier vor dem Atomunfall nur etwa ein Fünftel der Bevölkerung, doch macht die verbleibende Sperrzone fast 80 Prozent des gesamten Stadtgebiets aus.

Auch in den tagsüber geöffneten Sektoren ist die Strahlung noch immer hoch. Wer hier ein Jahr lang lebt, wird mit maximal 50 Millisievert verstrahlt. Das entspricht etwa dem 50-Fachen der in den meisten Industriestaaten für die Bevölkerung zulässigen Strahlung. Die Dekontaminierungsarbeiten kommen wie überall in der Sperrzone nur schleppend voran. Niemand weiß, wohin mit den verstrahlten Tsunamitrümmern und dem radioaktiven Erdreich, das abgetragen werden muss, um die Wohngebiete zu reinigen. Seit Monaten verhandelt die Tokioter Zentralregierung mit den Gemeinden in der Sperrzone über den Bau von Zwischenlagern für den Atommüll. Doch noch ist keine Einigung in Sicht. Deshalb wird der Strahlenmüll vorerst in Säcken notdürftig unter freiem Himmel zwischengelagert.

Gut ein Drittel der Bürger hat bereits beschlossen, Namie endgültig den Rücken zuzukehren. Eine Regierungsumfrage von Anfang März ergab, dass nur knapp 40 Prozent der ehemaligen Bürger zurück in ihre alte Heimat wollen.

In drei Jahren will die Regierung den Evakuierungsbefehl für die jetzt tagsüber geöffneten Stadtteile ganz aufheben. Bis dahin soll auch die Strom-, Gas-, Wasser- und Abwasserversorgung wieder hergestellt sein.

Strahlenfrei wird Namie dann aber wohl immer noch nicht sein. Immer wieder sagen Experten, dass es beinahe unmöglich sei, große Waldgebiete wie im Westen der Stadt zu dekontaminieren. Das Ziel, die Strahlung wieder auf Normalwerte zu bringen, sei unerreichbar. Auch die Regierung hat das offenbar eingesehen. Damit der Evakuierungsbefehl dennoch aufgehoben werden kann, erwägt sie nun eine Anhebung der Grenzwerte.

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