Werbung

Pauschalierung ist nicht die Alternative zu Hartz IV

Debatte zur Mindestsicherung im Wahlprogramm: eine Replik von Ralf Krämer auf Jürgen Aust

  • Ralf Krämer
  • Lesedauer: 9 Min.

Bis Juni 2013 soll das Wahlprogramm der Linkspartei stehen – nach breiter Diskussion. In der Reihe »Was will die Linke?« zum Wahlprogramm der Partei sind an dieser Stelle bisher Texte von Ralf Krämer (hier), Halina Wawzyniak (hier), Klaus Lederer (hier), Klaus Ernst und Jan Korte (hier) sowie des Sprecherrates der Antikapitalistischen Linken (hier), von Steffen Harzer (hier), Thomas Hecker (hier) sowie Tobias Schulze und Petra Sitte (hier), Ronald Blaschke (hier) sowie vom Koordinierungskreis der Emanzipatorischen Linken (hier), Ida Schillen (hier), der Antikapitalistischen Linken NRW (hier) und Jürgen Aust vom Landesvorstand Nordrhein-Westfalen (hier) erschienen – die Debatte wird fortgesetzt.

Pauschalierung ist nicht die Alternative zu Hartz IV / Replik auf Jürgen Aust von Ralf Krämer

Jürgen Aust wendet sich in seinem Text hauptsächlich gegen die von mir und dem BundessprecherInnenrat der Sozialistischen Linken vorgetragene Position, dass die Forderung nach einer pauschalierten Mindestsicherung von 1050 Euro monatlich pro Person nicht sinnvoll sei, sondern große Probleme aufwerfe. Ich hab es zwar von vornherein befürchtet, aber finde es trotzdem ziemlich daneben, dass es vielen GenossInnen anscheinend nicht möglich ist, diese fachliche und politische Frage sachlich und ohne Diffamierungen zu diskutieren.

Meines Erachtens ist die Begründung des Änderungsantragsentwurfs gegen die 1050-Euro-Forderung keineswegs besonders polemisch, sondern sachlich: Allemal sachlicher als die Reaktionen jedenfalls, die statt aus konkreten und fundierten Gegenargumente in weiten Teilen aus Fehlinformationen, Diffamierungen und Falschbehauptungen bestehen. Ich danke aber für die Kritik insoweit als sie mir die Gelegenheit bietet, einige Argumente noch mal vorzutragen und zu vertiefen.

Interessanterweise verzerrt Aust sogar die wiederum falsche Wiedergabe meines Textes durch den Koordinierungskreis der EmaLi, wahrscheinlich um sie in Schutz zu nehmen. Die Emali hatte nämlich behauptet, ich hätte geschrieben, 1050 Euro würden niemandem nützen und dies als »bezeichnend für die Kultur der Verachtung, mit der die Menschen zu kämpfen haben, die von Transferleistungen abhängig sind« diffamiert. Bloß habe ich das gar nicht geschrieben, sondern dass die Forderung niemandem nützt. Und zwar weil sie völlig unrealistisch ist, von keinen gesellschaftlich relevanten Organisationen vertreten wird und damit auch keinen maximalen Druck für reale Erhöhungen ausübt und nicht ernst zu nehmen ist. Wer politische Realitäten und Kräfteverhältnisse verändern will und nicht Parteibeschlüsse als Selbstzweck betrachtet, müsste dieses Argument eigentlich verstehen.

Die von Aust als Gegenbeispiel angeführte AG Alternative Wirtschaftspolitik, bei der das einmal in einem Memorandum auftauchte, ist von mir hoch geschätzt, aber gesellschaftlich relevant ist sie leider kaum und ihre Kompetenz in der Sozialpolitik hält sich auch in Grenzen. Aust zitiert ihren Vorschlag auch nur unvollständig. Der lautet nämlich 1000 Euro für die erste Person im Haushalt, für weitere Haushaltsmitglieder ab 14 Jahren 500 Euro und 300 Euro für Kinder unter 14 Jahren. Ganz entsprechend der Logik der Armutsrisikogrenzen. Ich glaube nicht, dass Jürgen Aust sich dem anschließen will.

Inakzeptabler Diskussionsstil

Aust kritisiert dann das Hartz-IV-System und damit verbundene Zumutungen für Betroffene. Das Perfide dabei ist, dass er damit anscheinend den falschen Eindruck erwecken will, diese Kritik hätten wir nicht auch und als hätten wir keine Forderungen, diese Sauereien abzuschaffen. Tatsächlich aber unterstützen wir in unserem Änderungsantrag alle einschlägigen Forderungen zur Abschaffung des Hartz-IV-Systems wie Abschaffung der Sanktionen und des Zwangs jede angebotene Arbeit anzunehmen, Übernahme der angemessenen Wohnkosten in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen usw. Damit würde auch Austs Argumentation und der Klageflut wegen heute vielfach ungenügender Übernahme von Wohnkosten die Grundlage entzogen. Wir übernehmen wörtlich die Forderungen des mit breiter Mehrheit beschlossenen LINKE-Wahlprogramms von 2009. Es ist unredlich und inakzeptabler Diskussionsstil so zu tun, als ob wir das Hartz-IV-System beibehalten wollten.

Aust argumentiert weiterhin so, als sei der Kernpunkt der „Hartz-IV-Logik“ die Ablösung eines pauschalen Leistungssystems durch ein System mit Regelsatz und Erstattung der Kosten der Unterkunft. Mit Verlaub, das ist Unfug. Er fabuliert sogar „eine einheitliche Geldleistung in Höhe von 1050 Euro, wie bei der früheren Arbeitslosenhilfe“. Auch das ist Unfug, so eine Leistung gab es nie. Die abgeschaffte Arbeitslosenhilfe hatte keineswegs eine einheitliche Höhe, sondern schloss sich in verminderter Höhe von 53 Prozent des früheren Nettolohns an das Arbeitslosengeld an, hatte also die entsprechenden Anspruchsvoraussetzungen, war sehr unterschiedlich hoch und zusätzlich bedürftigkeitsgeprüft. Es ging auf reduziertem Niveau um Lebensstandardsicherung. Wenn es die Arbeitslosenhilfe noch gäbe läge sie nur bei einer Minderheit zuvor überdurchschnittlich gut Verdienender bei 1050 Euro. Ergänzend führt Aust das Wohngeld an. Doch auch der Wohngeldantrag umfasst einen umfangreichen Fragebogen und mit über 1000 Euro netto hat ein Single selbst in den teuersten Städten der Republik keinen Wohngeldanspruch, egal wie teuer die Wohnung ist, weil auch da gibt und gab es schon immer Obergrenzen was anerkannt wird.

Die Bedürftigkeitsprüfung bei der früheren Arbeitslosenhilfe war allerdings erheblich weniger restriktiv als bei Hartz IV. Doch fordern wir ja nicht nur erheblich erhöhte Regelsätze, sondern auch Individualisierung unter Berücksichtigung von Unterhaltsansprüchen, höhere Leistungen für Kinder, neue Regelungen und Freibeträge zur Anrechnung von Einkommen und Vermögen, die noch weniger restriktiv als früher bei der Arbeitslosenhilfe wären. Und eine Bedürftigkeitsprüfung wäre auch bei einer pauschalierten Mindestsicherung von 1050 Euro weiterhin erforderlich. Denn die Pauschalierung würde sich ja nur auf die Bedarfshöhe beziehen, zur Bestimmung von Leistungsanspruch und Leistungshöhe würden weiterhin Einkommen und Vermögen ermittelt und oberhalb von Freibeträgen angerechnet. Es handelt sich ja um eine Mindestsicherung bei Erwerbslosigkeit zwecks Armutsvermeidung und nicht um ein bedingungsloses Grundeinkommen. Letzteres wäre erst recht abstrus, ist aber auch definitiv nicht Beschlusslage der Partei und wird es auch nicht werden.

Individuelle Bedarfe beachten

Bei unserer Kritik an der Verwendung einer willkürlich ausgewählten Armutsrisikogrenze zur Bestimmung der Höhe einer Mindestsicherung geht Aust auf die Kernpunkte gar nicht ein. Ich wiederhole sie: Armutsrisikogrenzen sind ein pauschales statistisches Maß für internationale und intertemporale Vergleiche des Ausmaßes der Armutsgefährdung in Bevölkerungen, nicht für individuelle Armut. Soziale Mindestsicherung dagegen hat das Ziel, bezogen auf die einzelnen Personen Armut zu verhindern, dazu müssen die individuellen Lebensbedingungen und Bedarfe beachtet werden. Im Grundsatzprogramm ist aus guten Gründen an keiner Stelle von „Armutsrisikogrenze“ die Rede, sondern dass Armut vermieden werden soll. Das ist etwas anderes.

Bei den Armutsrisikogrenzen werden Haushalte betrachtet, nicht einzelne Personen, dabei zählen Paarhaushalte nur mit dem 1,5-fachen einer Einzelperson und Kinder unter 14 Jahre mit je dem 0,3-fachen. Würden in dieser Statistik die in Mehrpersonenhaushalten lebenden Personen individuell betrachtet, würden sich deutlich niedrigere Armutsrisikogrenzen ergeben. Würde das Konzept der Armutsrisikogrenze auch zur Begründung von Leistungshöhen bei Mehrpersonenhaushalten angewendet, kämen dabei erheblich niedrigere Werte heraus als wir fordern. Zudem ist in das betrachtete Einkommen der Nettomietwert selbstgenutzten Wohneigentums einbezogen, was in der Parteidebatte ebenfalls verschwiegen wird. Angemessener und Grundlage der bisherigen Kritik der Linksfraktion an den viel zu niedrigen Hartz-IV-Regelsätzen ist eine korrekte Anwendung des sogenannten Statistikmodells, das von tatsächlichen Verbrauchsausgaben der Menschen ausgeht. Hieraus ergibt sich die Forderung einer qualitativ verbesserten Wohnkostenübernahme und einer Erhöhung des Regelsatzes auf etwas über 500 Euro.

Zur Problematik der erweiterten Kombilohnwirkung einer pauschalierten Mindestsicherung von 1050 Euro geht Aust auf die dargestellten Mechanismen nicht ein und erst recht nicht auf die steuer- und finanzpolitischen Konsequenzen und immensen Mehrkosten von wahrscheinlich mehr als 50 Milliarden Euro jährlich. Diese würden zum großen Teil keineswegs Armen zugute kommen, und sie würden im Rahmen des Steuer- und Finanzverbunds in großem Maße auch die Länder und Kommunen treffen.

Problematische Kombilohnwirkung

Selbstverständlich haben die Lohnabhängigen Interesse an möglichst lebensstandardsichernden, mindestens armutsvermeidenden Sozialleistungen, um nicht Arbeit zu schlechten Bedingungen annehmen zu müssen. Dies würde durch die von uns geforderten Verbesserungen und Abschaffung von Arbeitszwang und Sanktionen realisiert. Aber Armutsvermeidung heißt eben gerade nicht Pauschalisierung. Und problematisch wegen ihrer Kombilohnwirkung sind besonders die Zuverdienstregelungen, bei Singles bis 300 Euro monatlich, deren Ausweitung nicht zufällig vor allem von der FDP gefordert wurde. (Der ebenfalls zur Begründung der 1050 Euro angeführte Pfändungsschutzfreibetrag von 1029 Euro bezieht sich auf das gesamte Erwerbseinkommen, von dem ja auch noch erwerbsbedingte Kosten bestritten werden müssen und ohne zusätzliche Zuverdienstmöglichkeit.) Leider verschwinden reale Problem nicht dadurch, dass man sie ignoriert oder leugnet. Und sie lassen sich auch nicht dadurch lösen, dass man einfach weitere Forderungen draufsattelt, die gleichfalls unrealistisch sind.

Letztlich beruht die gesamte Kritik von Aust an unserer Position auf der Behauptung, der Kern von Hartz IV wäre, dass es keine „einheitliche bedarfsdeckende Geldleistung“ sei. Wie gezeigt ist das in mehrfacher Hinsicht falsch und ein Popanz. Es ist schon begrifflich ein Widerspruch in sich, weil die Lebenslagen und Bedarfe eben nicht einheitlich sind. Insbesondere ist es bei der Bedarfsermittlung völlig unangemessen, von den sehr unterschiedlichen Wohnkosten abzusehen, und würden bei einer Pauschalierung des Bedarfs auf 1050 Euro monatlich gravierende Ungerechtigkeiten auftreten. Diese unsere Kritik zitiert Aust zwar, aber er versucht nicht einmal sie argumentativ zu bestreiten. Das dürfte auch schwerfallen und liegt daran, dass sie einfach stimmt:

Wer in einer teuren und schlecht isolierten Mietwohnung lebt und zudem gesundheitliche Einschränkungen hat, kann auch mit mehr als 1050 Euro arm sein. Wer gesund in einer abbezahlten Eigentumswohnung lebt, hat ggf. auch mit 800 Euro mehr frei verfügbares Einkommen und eine deutlich bessere Wohnsituation als eine zu teurer Miete wohnende Beschäftigte, die z.B. 1900 Euro brutto verdient (das entspricht über 11 Euro Stundenlohn) und davon weniger als 1300 Euro netto übrig hat. Diesem Wohnungseigentümer 1050 Euro zu zahlen hätte mit Armutsbekämpfung nichts mehr zu tun und würde Widerstand von Steuern zahlenden Beschäftigten geradezu provozieren.

Die Kernprobleme von Hartz IV sind das unzureichende Leistungsniveau und unzureichende Übernahme von Wohnkosten, der Zwang jede angebotene Arbeit anzunehmen ohne Zumutbarkeitskriterien, selbst wenn sie den Hartz IV-Bezug nicht beendet, die Konstruktion der Bedarfsgemeinschaften, die Repressionen und Sanktionen. Zu all diesen Punkten stellen die von uns getragenen Forderungen der LINKEN für eine bedarfsdeckende sanktionsfreie Mindestsicherung eine Alternative dar. Pauschalierung dagegen ist nicht sinnvoll, wenn es um Bedarfsdeckung und Armutsvermeidung gehen soll, und außerdem mit großen Ungerechtigkeiten, immensen nicht zielgerichteten Mehrkosten und politischen Problemen verbunden. Das ist und bleibt wahr, auch wenn es einige nicht wahrhaben wollen.

Ralf Krämer ist Gewerkschafter, Gründungsmitglieder der Wahlalternative und gehört dem BundessprecherInnenrat der „Sozialistischen Linken“ an.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.