Keine Abkehr von der Koedukation?
Bildungsexperten streiten um Geschlechtertrennung in der Schule
Wenn die Freunde Jens, Max und Paul* den Sexualkundeunterricht besuchen, reden sie unbefangen über Masturbation, beschnittene Penisse oder Schwierigkeiten mit dem Kondom - heikle Themen, die die Jungen in der Gegenwart von Mädchen eher nicht diskutieren wollen. Die Dortmunder Heinrich-Böll-Gesamtschule bietet ihnen dazu Gelegenheit, indem sie die Schüler und Schülerinnen im Fach Biologie zeitweise trennt. »Wir können so etwas besser besprechen, wenn wir unter uns sind«, meint der 15-jährige Max: »Wenn Mädchen dabei sind« fühle er sich gehemmt.
Solche Experimente sind bisher selten. Zwar sind viele ältere Westdeutsche einst auf Schulen gegangen, die nach Geschlechtern aufgeteilt waren. Erst in den 1970er Jahren setzte sich in der alten Bundesrepublik der Grundsatz der Koedukation flächendeckend durch. Doch schon bald klagten frauenbewegte Pädagoginnen, Mädchen kämen in den gemischten Klassen in bestimmten Fächern nicht zum Zuge. Untersuchungen belegten, dass die Absolventinnen reiner Mädchengymnasien später deutlich häufiger Mathematik, Naturwissenschaften oder gar Maschinenbau studierten. Manche Schulen begannen daraufhin, separaten Unterricht etwa in Physik und Chemie anzubieten. Die so geförderten Schülerinnen wurden tatsächlich selbstbewusster und erzielten bessere Leistungen - auch wenn Frauen zum Beispiel in den Ingenieurberufen bis heute eine Minderheit geblieben sind und sich ihre Zahl nur langsam erhöht.
Mittlerweile läuten eher beim anderen Geschlecht die Alarmglocken. Die Ergebnisse der PISA-Tests zeigten, dass männliche Schüler vor allem in der »Basiskompetenz Lesen« abgehängt sind. Der Vorsprung der 15-jährigen Mädchen beträgt hier mehr als ein Lernjahr. Jungen, so bestätigten auch die letzte Shell-Jugendstudien, bleiben öfter sitzen, machen seltener Abitur und stellen in den Hauptschulen die klare Mehrheit. Der Unterricht, so kritisiert der Frankfurter Bildungsforscher Frank Damasch, habe sich »an weibliche Formen des Lernens und Gestaltens« angepasst.
In der Lehrerfortbildung heißt das Stichwort deshalb jetzt »reflexive Koedukation«: Schüler und Schülerinnen sollen in bestimmten Fächern mit geschlechtsspezifischen Lehrmaterialien arbeiten und teilweise auch separaten Unterricht erhalten. In Deutsch zum Beispiel bedeutet das für die Lehrpläne, mehr Texte auszuwählen, die männliche Schüler besonders ansprechen. Comics, Fantasygeschichten oder Abenteuerbücher sind im Unterricht meist die Ausnahme. Die »Rechtschreibekompetenz«, heißt es in einer Untersuchung des Bundesbildungsministeriums, hänge auch »vom sozialen Bezug der Wörter« ab. Wenn in Texten »männlich konnotierte« Begriffe wie Ritter, Benzintank oder Torwart auftauchen, machen Jungen demnach weniger Fehler in orthografischen Tests..
Das Beispiel zeigt, wie sehr die geforderte reflexive Pädagogik einem Balanceakt gleicht. Schnell besteht die Gefahr, Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu dramatisieren und Rollenstereotypen zu bedienen. Kritiker verweisen darauf, dass soziale und ethnische Faktoren eine wichtigere Rolle für den Bildungserfolg spielen als das Geschlecht. So liegen Jungen aus Mittelschichts-Elternhäusern auch im Fach Deutsch über dem Notendurchschnitt, während sich etwa Jugendliche aus Migrantenfamilien erheblich schwerer tun.
Fast zwei Jahrzehnte dauerte es, bis die Schwierigkeiten von Jungen in der Schule zu einem öffentlich diskutierten Thema wurden. Lange standen ihre Wünsche im Schatten der (sinnvollen und erfolgreichen) Mädchenförderung. »Ungeklärt ist, wie ein an Jungeninteressen orientierter Unterricht aussehen könnte, ohne die Interessen von Mädchen zu vernachlässigen«, heißt es etwas ratlos in dem Bericht aus dem Bundesbildungsministerium.
»Wir sind konsequent für das gemeinsame Lernen von Jungen und Mädchen«, betont Marianne Demmer, stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Eine Abkehr von der Koedukation lehnt die GEW wie fast alle Bildungsexperten ab. Wenn jetzt engagierte Lehrer oder gar »Jungenbeauftragte« an den Schulen mehr auf die Lernwege männlicher Schüler achten, wollen sie damit jedoch keineswegs die Bedürfnisse von Mädchen ignorieren. Sie wollen vielmehr verhindern, dass aus den »kleinen Helden in Not« irgendwann »große Kerle ohne Perspektive« werden. Sonst nämlich droht ein gesellschaftliches Problem ersten Ranges: Die Ausländerfeindlichkeit in manchen ostdeutschen Regionen, wo junge, gut ausgebildete Frauen in Richtung Westen abgewandert sind und benachteiligte junge Männer übrig bleiben, ist dafür ein Warnsignal.
*Namen der Schüler geändert
Der Autor ist Verfasser des Buchers »Die Krise der Kerle«, Lit Verlag, Münster 2007, 177 S., 17,90 €
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