Mit wenig Kapital zum »Kapital«
Vor 195 Jahren wurde Karl Marx in Trier geboren - »Ein Ochsenkopf von Ideen«
»Ein Ochsenkopf von Ideen« - so die archivierte Meinung des Berliner Polizeipräsidenten über Karl Marx: »Man weiß, dass er in seiner Zehspitze mehr geistigen Fonds hat als die ganze übrige Gesellschaft in ihren Köpfen«. Das war 1852, und der Polizeipräsident hieß damals Hinckeldey. In jenem Jahr lebte der von preußischen Spionen bespitzelte Dr. Marx als staatenloser Asylant im Londoner Stadtteil Soho, Dean Street 28, in Armut und Elend. In seinem Brief vom 8. September an Engels heißt es: »Meine Frau ist krank, Jennychen ist krank, Lenchen hat eine Art Nervenfieber. Den Doktor kann und konnte ich nicht rufen, weil ich kein Geld für Medizin habe. Seit 8-10 Tagen habe ich die family mit Brod und Kartoffeln durchgefüttert, von denen es noch fraglich ist, ob ich sie heute auftreiben kann.«
Ab und an hatte der passionierte Briefschreiber sogar kein Geld für Briefmarken, auch keinen Penny für Tageszeitungen. Und weiter lesen wir in jenem Brief, dass er selbst wochenlang bettlägerig, und beim Bäcker, Milchmann, Fleischer, Gemüsehändler sowie der Hauswirtin (allein bei ihr mit 22 £!) verschuldet gewesen sei. Gewöhnlich durchwate er jedoch die »Scheiße« mit Gleichgültigkeit. Obwohl er in Vorbereitung seines ökonomischen Hauptwerkes eigentlich eine Unmasse von Literatur hätte durchackern müssen, war er vorübergehend daran gehindert, sich in den Bücherschätzen des Britischen Museums zu vergraben - weil er sich keine Lesekarte leisten konnte oder weil er, um Schreibpapier kaufen zu können, genötigt gewesen war, seinen Rock zum Pfandleiher zu bringen. Auch wenn Marx im Privatleben mit Geld nicht umzugehen verstand, bleibt es dennoch wahr, dass noch niemand mit so wenig Kapital das »Kapital« durchleuchtet hat wie er.
In diesem Jahr seiner Misere 1852 vollendete Marx seine brillanteste Schrift, den »Achtzehnten Brumaire«. Und er vermeldete brieflich zudem voller Selbstbewusstsein seinen Anspruch, Revolutionierendes zum Wissensbestand der Menschheit beigetragen zu haben: Als Allererster habe er den Beweis erbracht, dass das Bourgeoisregime zwar geschichtlich unvermeidbar, aber nur von transitorischer Notwendigkeit sei. Denn der für die bürgerliche Gesellschaft charakteristische Klassenkampf werde zur Diktatur des Proletariats und diese Diktatur dann zur Aufhebung aller Klassen führen, also zu einer klassenlosen, eben der kommunistischen Gesellschaft, deren Grundprinzip, wie er später im »Kapital« formulieren wird, »die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist«.
Nachdem der Kölner Strafprozess gegen führende Mitglieder des Bundes der Kommunisten wegen ihrer (laut Anklage) Verabredung, »die Staatsverfassung umzustürzen und die Bürger gegen die königliche Gewalt und gegeneinander zur Erregung eines Bürgerkrieges zu bewaffnen«, mit der Verurteilung von sieben der elf Angeklagten zu hohen Festungsstrafen zu Ende gegangen war, erklärte sich der Kommunistenbund nach fünfjähriger Existenz am 17. November 1852 für »nicht mehr zeitgemäß« und aufgelöst. Den Auflösungsantrag hatte Marx selbst gestellt. Von ihm war im Prozessverlauf Dutzende Male die Rede gewesen, auch das ihm vom Staatsanwalt zugeschriebene »Kommunistische Manifest« war nicht weniger oft erwähnt worden, selbst dessen heutzutage berühmtester Satz von der künftigen »Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«, wurde zitiert. Die Verlesung eines von Marx an einen der Verteidiger gerichteten Schriftstückes verhindert allerdings das Gericht mit der Begründung, dass »Marx, wenn er sich im Bereiche der preußischen Gesetze befände, ebenfalls auf der Anklagebank sitzen würde«. Derjenige, der das damalige Unterdrückungs- und Betrugsmanöver als »Obergeneral« leitete, der bereits erwähnte Berliner Polizeipräsident Hinckeldey, hatte schon recht, wenn er Marx als denjenigen ausgeforscht hatte, der eine die Grundpfeiler der bürgerlichen Gesellschaft zernagende Intelligenz verkörpert.
Dies und anderes war dem am 5. Mai 1818 in Trier, einem Landstädtchen mit damals etwa zwölftausend Einwohnern, geborenen Carl Marx nicht in der Wiege gesungen worden. Er entstammte mütterlicher- wie väterlicherseits Geschlechtern von Rabbinern. Darunter gelehrten Koryphäen der europäischen Judenheit. Sein Vater, ein allgemein anerkannter, überdies hochgebildeter Justizrat und Rechtsanwalt, der auch Leibniz, Newton und Locke, Rousseau, Voltaire und Kant gelesen hatte, sah sich allerdings infolge der nachnapoleonischen Unterdrückungsgesetzgebung im preußisch gewordenen Rheinland gezwungen, sich selbst, dann auch seine Frau und später die sieben gemeinsamen Kinder taufen zu lassen. Was zu einem Bruch mit seinem Bruder führte, dem Oberrabbiner von Trier.
Der als Sechsjähriger ungefragt getaufte, zehn Jahre danach auch konfirmierte und später als Abiturient in seinem Religionsaufsatz über die - laut Kapitel 15 des Johannes-Evangeliums - notwendige Vereinigung der Gläubigen mit Christo (sonst werde man als unfruchtbar weggeworfen!) meditierende Marx verwarf in den kommenden Jahren die Religion des Christentums wie die des Judentums. Und zwar radikal. Als Atheisten bezeichnete er sich deswegen freilich nicht, denn den Atheismus hielt er für die letzte Stufe des Theismus, für eine Art von negativer Anerkennung Gottes. Ihrer Entstehung nach war Religion für ihn auch kein gezielter Priesterbetrug, kein Opium für das Volk, sondern ein Opium des Volkes, ein von den Massen geschaffenes, wenn auch verkehrtes Weltbewusstsein, ein Seufzer der bedrängten Kreatur, ihr illusorisches Glück. Marxens Religionskritik war Gesellschaftskritik und Kampf für solche Eigentums- und Machtverhältnisse, unter denen das wirkliche Glück der Menschen ihr illusorisches Glück erübrigt. Die Illusionen über einen Zustand verlieren zu wollen, bedinge nämlich, jenen Zustand aufzuheben, der dieser Illusionen bedarf.
Jedenfalls hat der in Bonn und Berlin studierte Jurist und sodann in Jena promovierte Philosoph seine schließlich als 26-Jähriger vollzogene Hinwendung zum Kommunismus als dem vollendeten Humanismus weder mit religiösen noch mit juristischen, noch mit moralischen Erwägungen begründet. Nicht Neid auf die Reichtümer der Reichen, auch nicht Mitleid mit der Armen Armut war seine Triebkraft. Nicht Emotionalität, sondern Rationalität trieb ihn voran. Zeitlebens war Marx gepeinigt vom Hochmut seiner Intelligenz.
Auf den Schultern der antiken und nachmittelalterlichen Aufklärer stehend, inspiriert von Hegels Dialektik wie von Feuerbachs Materialismus, aber auch in kritischer Aneignung der Erkenntnisse englischer und französischer klassisch-bürgerlicher Ökonomen hat er die bisher tiefgreifendste und - wie augenfällig die Gegenwartskrise zeigt - unüberholte, also noch unverbrauchte Analyse der kapitalistischen Weltgesellschaft erarbeitet. Die noch unvollständige Marx/Engels-Gesamtausgabe ist in ihrer Bedeutung mit dem publizierten Lebenswerk solcher Geistesriesen wie Aristoteles oder Leibniz vergleichbar.
Nach der Implosion der europäischen Sozialismen 1989/90 geisterte selbst durch die Zeilen dieser Zeitung mitunter die von Sachkunde ungetrübte Unterstellung eines geradlinigen Weges: Marx habe Lenin inspiriert, und der habe Stalin die Knute in die Hand gegeben. Die für Marx »günstigere« Variante lautete: Seine Werke seien von Lenin/Stalin so benutzt worden wie die Texte des Alten Testaments von den modernen Christen. Ist es so schwer zu erkennen, dass die Sieger des Kalten Krieges auch den intellektuellen Totalgehorsam einfordern? Freilich: in der Wirklichkeit der Weltgesellschaft der Gegenwart ist das nun einmal von Marx entdeckte Gesetz der kapitalistischen Akkumulation, die Anhäufung von Reichtum auf dem einen Pol und die von Elend, Unwissenheit, Brutalisierung, und moralischer Degradation auf dem Gegenpol so unbestreit- wie unübersehbar. Befragt nach dem bedeutendsten Denker des zweiten Jahrtausends entschied sich im Herbst 1999 eine überwältigende Mehrheit der Teilnehmer an einer BBC Online-Wahl für Karl Marx - und verwies Einstein, Newton, Darwin und Thomas von Aquino auf die Plätze.
In einem Brief aus seinen letzten Lebensjahren schreibt Marx: Der Traum von dem nahe bevorstehenden Untergang der Welt habe die Urchristen in ihrem Kampf gegen das römische Weltreich angefeuert und ihnen Siegesgewissheit gegeben. Die wissenschaftliche Einsicht in die - unter unseren Augen vorgehende Zersetzung - der herrschenden Gesellschaftsordnung reiche als Bürgschaft hin, dass mit dem Ausbruch einer »wirklich proletarischen Revolution« auch die Bedingungen ihres unmittelbaren, wenn auch nicht idyllischen Handelns gegeben sein werden.
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