45 Rennräder vom Ministerpräsidenten Gottwald

Am 1. Mai 1948 wurde die erste Friedensfahrt gestartet - zeitgleich von Prag nach Warschau und von Warschau nach Prag

  • Martin Meck
  • Lesedauer: 4 Min.
Vor 65 Jahren wurde erstmals die Friedensfahrt gestartet - das legendäre Amateurradrennen, das später Millionen Zuschauer an die Straßen der Ausrichterländer Polen, CSSR und DDR lockte. Auch nach 1989 konnte die Tour als Profirundfahrt noch bis 2006 bestehen, ehe sie wegen Geldmangels eingestellt wurde. »nd« wirft einen Blick auf das Gründungsjahr.

Über die Entstehungsgeschichte der Friedensfahrt, die vor 65 Jahren nur »Internationales Radrennen« hieß, ist viel geschrieben worden. Im Laufe der Jahrzehnte ist einiges in Vergessenheit geraten, manches wurde hinzugedichtet oder ungenau weiter erzählt. Selbst die wenigen Zeitzeugen, die 1948 dabei waren, können sich heute kaum mehr an Einzelheiten erinnern. Noch dazu sind wichtige Dokumente wie Startlisten und Ergebnisprotokolle verschwunden.

Verwegene Mitarbeiter der Tageszeitung »Glos Ludu« in Polen und der »Rude Pravo« in der Tschechoslowakei machten sich im Jahre 1947 Gedanken darüber, wie man nach dem Krieg die Menschen beider Länder wieder einander näherbringen könnte. Der Chefredakteur der »Glos Ludu« dachte zunächst an einen Boxwettkampf oder ein Motorradrennen. Schließlich kam die Sprache aber auf eine grenzüberschreitende Radfernfahrt, eine »Tour der Slawen«. Gerade die Polen konnten in Bezug auf die Veranstaltung von Etappenrennen auf gewisse Erfahrungen zurückgreifen, denn seit 1928 hatte es fünf Auflagen und sechsundvierzig Etappen der Polen-Rundfahrt gegeben. Im September 1947 stand deren sechste Austragung bevor.

Am 25. August 1947 erschien dann in der »Rude Pravo« eine Nachricht darüber, dass zwischen den Radsportverbänden Polens und der Tschechoslowakei Verhandlungen über ein 1000 Kilometer langes Vieretappenrennen der Radsportler zwischen Prag und Warschau geführt werden. Die Fahrtrichtung der Tour sollte im Folgejahr dann umgekehrt, also von Warschau nach Prag verlaufen. Für alle Beteiligten um die Ideengeber aus der »Glos Ludu«-Redaktion und deren Partner bei der »Rude Pravo« begannen im Februar 1948 dann ernsthaft die Vorbereitungen auf ein Ereignis, dass bis ins 21. Jahrhundert hinein Millionen Menschen an die Straßen locken sollte.

Die Quellen belegen es nicht, aber es erscheint möglich, dass sich die Organisatoren der Premieren-Friedensfahrt bei der Polen-Rundfahrt des Jahres 1947 umschauten, die in vier Etappen über 606 km von Krakow über Czestochowa und Lodz nach Warschau geführt hatte.

Die schwierige finanzielle Situation und der Mangel an Material wurden unter anderem dadurch verbessert, dass die »Rude Pravo« für das Rennen 100 000 Kronen zur Verfügung stellte und ein Trainingslager für die ČSR-Fahrer in der Tatra finanzierte. Ministerpräsident Klement Gottwald organisierte sogar eine beträchtliche Summe Schweizer Franken für den Kauf von fünfundvierzig neuen Schweizer Rennrädern.

Nachdem die vielen Schwierigkeiten bezüglich der Versorgung, der Unterbringung oder der Streckenführung gelöst waren, standen am 1. Mai 1948 in Prag und in Warschau insgesamt 120 Rennfahrer mit ihren Maschinen am Start. Vor den in Prag gestarteten fünfundfünfzig Fahrern lagen sieben Etappen mit 1104 Kilometern Gesamtlänge. Zwei Ruhetage sollten die Strapazen auf dieser Route etwas lindern. In Warschau schoben an diesem denkwürdigen Tag fünfundsechzig Fahrer ihre Räder an die Startlinie. Die lange Reise zur Moldau über insgesamt 872 Kilometer war in fünf Etappen unterteilt - ohne Ruhetag.

Für alle Teilnehmer startete das Rennen am 1. Mai 1948. In der polnischen Hauptstadt wurde um 10.30 Uhr der »scharfe Start« vollzogen, in Prag wurde es um 15.15 Uhr ernst. Zwei gleichzeitige Rennen, das sollte es in der Geschichte der Rundfahrt nicht noch einmal geben. Den Nachteil, dass sich die Teilnehmer beider Rennen nicht treffen würden, umgingen die Organisatoren geschickt: Die Fahrer von »Warschau - Prag«, die bereits nach fünf Tagen ihren Gesamtsieger in der tschechoslowakischen Hauptstadt ermittelt hatten, wurden in den Zug nach Radom (Polen) gesetzt. Dort angekommen warteten sie auf die Kollegen von »Prag - Warschau«, die auf ihrer letzten Etappe unterwegs waren. Als diese Radom passiert hatten, ließen die Kollegen ein paar Minuten Zeit verstreichen, dann schwangen sie sich auf die Sättel und folgten ihnen in die polnische Hauptstadt. So konnten die Zuschauer alle Fahrer bejubeln und die Sieger beider Fahrten ehren: August Prosinek, der Warschau-Prag gewann und Aleksander Zorić, der in die entgegengesetzte Richtung siegte, beide Fahrer der jugoslawischen Auswahl.

Nach der Ankunft einigte man sich darauf, in Zukunft nur eingleisig zu fahren und jährlich die Fahrtrichtung zwischen den Hauptstädten zu wechseln. Und die Redaktion der »Rude Pravo« sollte Recht behalten, als sie am 1. Mai 1948 mit der Schlagzeile aufmachte: »Wir werden beweisen, dass wir ein Rennen auf die Beine bringen können, auf das ganz Europa blicken wird!«

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