»Der längste Sprint meines Lebens«
Radprofi John Degenkolb gewinnt in chaotischem Finale die fünfte Etappe des Giro d'Italia
Nach dem Sieg kam die Gelassenheit. »Alles kommt zu dem, der warten kann«, kramte Degenkolb einen Spruch seiner Eltern heraus, mit dem diese ihn seit Kindesbeinen konfrontiert hatten. Warten können war eine Kunst, die Degenkolb in Italien zumindest einige Tage lang beherzigen musste. Er war schon für die erste Etappe als Favorit neben dem Briten Mark Cavendish gehandelt worden. Doch zwei Kilometer vor dem Ziel wurde der Zug seines Argos-Teams durch einen Sturz aufs Abstellgleis geschickt. »Das war natürlich extrem ärgerlich, weil wir die ganze Etappe gut auf die Sprintentscheidung hingearbeitet hatten«, lautete Degenkolbs frustrierter Kommentar.
Als er auf der dritten Etappe zuschlagen wollte, die wegen des bergigen Profils nach einem natürlichen Filter für den Hauptkonkurrenten Cavendish aussah und damit freie Fahrt versprach, musste Degenkolb erleben, wie die Favoriten um den Gesamtsieg das Rennen am Berg schneller machten, als ihm lieb war. »Der Berg war definitiv drei Kilometer zu lang für mich«, sagte Degenkolb. Bei einem ähnlichen Profil auf der vierten Etappe erinnerte er sich an den Spruch seiner Eltern und kämpfte erst gar nicht mit, als vorn die Post abging.
Den Mittwoch hatten er und sein Team sich allerdings dick im Kalender angestrichen. Wieder gab es zwei Anstiege kurz vor dem Ziel. Sie waren weniger hart als an den vorangegangenen Tagen, aber hart genug, Cavendish den Zahn zu ziehen. »Als wir merkten, das Cavendish Probleme hatte, wussten wir: Das ist unsere Chance«, meinte der sportliche Leiter von Argos, Addy Engels.
Leicht wurde die Angelegenheit dennoch nicht. Kurz vor dem letzten Kilometer stürzte Degenkolbs Anfahrer Luca Mezgec. Dann schoss das Adrenalin durch seinen Körper und er ignorierte einmal den Demutsspruch der Eltern. Statt zu warten, zog er einfach durch. »Das war der längste Sprint meines Lebens. Meine Beine sind mir ehrlich gesagt fast abgefault. Es war so weit bis zum Ziel«, ließ er die dramatische Schlussphase Revue passieren.
Am Ende war er der verdiente Sieger. Ein Sieger übrigens, der auch anderweitig Respekt verdient. Gemeinsam mit seinem Teamgefährten Marcel Kittel und Zeitfahrweltmeister Tony Martin (Omega) lancierte Degenkolb eine Erklärung, in der alle drei jegliches Doping während ihrer bisherigen Karrieren ausschlossen und für eine harte Dopinggesetzgebung in Deutschland plädierten. Mit Kittel will Degenkolb auch bei der Tour de France um Etappensiege kämpfen. »Es wäre das Größte, dort mit Marcel Mark Cavendish und André Greipel zu schlagen«, meinte er vorab.
Beim Giro d’Italia hat er sich weitere Etappen ausgeguckt. Fünf Siege werden es vielleicht nicht. Aber wie man in einen Lauf kommt, weiß Degenkolb spätestens seit der Vuelta 2012.
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