Eine Reformkommunistin im Kanzleramt?
Neues Buch über Angela Merkel: Futter für die konservative Opposition in der Union
Bücher werden nicht nur verkauft, sondern zuweilen auch von einer schrillen Kampagne begleitet. Seit vorgestern ist »Das erste Leben der Angela M.« - das Buch der beiden Springer-Journalisten Ralf Georg Reuth und Günter Lachmann - im Handel, aber bereits eine Woche zuvor begann der Verlag, das Publikum mit Interviews, Vorabdrucken und Schlagworten zu bearbeiten: »Das unbekannte Leben der Kanzlerin« (»Bild«), »Merkel, früher eine ehrgeizige Reformkommunistin?« (Die Welt). Das SPD-Vorstandsmitglied Ralf Stegner fiel auf den Klamauk herein und forderte prompt: »Merkel soll auspacken.« Fragt sich nur, was?
Wer das Buch liest, reibt sich die Augen. Darin ist zwar ein halbes Dutzend Mal von »Reformkommunisten« die Rede, aber das Wort »Reformkommunismus« kommt darin nicht vor. Das erstaunt nicht, denn in der DDR gab es keine organisierte Opposition wie »Solidarnosc« in Polen oder »Charta 77« in der CSSR. Opposition formierte sich in der DDR im Umkreis der evangelischen Kirche in Bürgerrechts-, Umwelt- und Friedensgruppen erst kurz vor dem Ende der DDR. Im Zusammenspiel mit dem Westfernsehen leiteten diese Gruppen und Organisationen die Wende ein, die ihnen schnell entglitt.
»Reformkommunist« ist für Reuth und Lachmann ein Synonym für »sowjetisch orientierte Reformkräfte«. Dazu zählen sie u.a. die Aktivisten im »Demokratischen Aufbruch«, der kurz vor der Wende entstand und zunächst für den Umbau der DDR in einen demokratischen Sozialismus eintrat - wie übrigens alle Ost-Parteien im Herbst 1989 für die Zweistaatlichkeit optierten und nicht für den Einbau der DDR ins Westland (»Wiedervereinigung«) bzw. die Einpflanzung von Kapitalismus und Marktwirtschaft ins Ostland. Über weite Strecken ist das Buch eine Neuauflage der KGB-Story, die Reuth zusammen mit Andreas Bönte schon vor 20 Jahren suggestiv vorgetragen hat: »Das Komplott. Wie es wirklich zur deutschen Einheit kam« (1993).
Die beiden Autoren wollen nachweisen, dass die Einserabiturientin Angela Merkel geb. Kasner alles andere als eine Oppositionelle war. Im Gegensatz zu Matthias Rau, ihrem Freund seit Sandkastenzeiten, arrangierte sie sich elastisch mit den DDR-Verhältnissen und beschäftigte sich nicht mit Politik. Rau protestierte 1968 gegen die Zwangsrückführung tschechischer Urlauber aus Usedom und wurde Krankenpfleger statt Arzt, weil ihm die Zulassung zum Studium verweigert wurde. Nach diesem Strickmuster führen die beiden Autoren Angela Merkel als rückgrat- und konturlose Opportunistin regelrecht vor. Nur - hat je jemand etwas anderes von ihr behauptet oder erwartet? Hat sich Angela Merkel je als Dissidentin inszeniert? Sie ergriff ihre Chancen, zuerst beim Aufstieg in die Wissenschaftselite in der DDR und dann beim Abhalftern ihres Wahlvaters Helmut Kohl im Westen.
Gelegentlich nimmt das suggestive Verfahren der beiden Investigatoren groteske Züge an. So berichten sie, dass die 15-jährige Angela ihrem Freund Matthias Rau zuhörte, wenn dieser auf der Gitarre Biermann-Lieder spielte, »aber dann zog sie doch wieder das blaue Halstuch der Pioniere oder die blaue Bluse der FDJ an.« Mit ihrer Behauptung, »sie … marschierte im Gleichschritt im Kollektiv« bezichtigen sie Angela Merkel indirekt der Lüge, denn in einem »Stern«-Interview sagte diese: »Ich mag das Kollektivistische nicht.« Gleich mehrfach betonen Reuth und Lachmann Angela Merkels »Begeisterung für alles Russische« - ohne jede Präzisierung. Geradezu lächerlich ist der Umgang der Autoren mit Quellen und Fakten: Aus dem zufälligen zeitlichen Zusammenfallen der Öffnung der ungarischen Grenzen am 11. September 1989 und einem Sommercamp, an dem Angela Merkel teilnahm, basteln sie eine hypothetische Kausalität: »Gerade als das Sommercamp sich seinem Ende zuneigte, hob Gorbatschow zum entscheidenden Schlag gegen Honecker an« und ließ die Grenzen öffnen. Das geht nach dem Kabarettmuster: »Der Papst ist gestorben und ich habe auch schon Zahnweh.«
Interessanter als das aus öder Stasi-Prosa und Zeitzeugenvermutungen gezimmerte Merkel-Porträt ist die Frage, warum die beiden Springer-Leute die Kanzlerin mit so viel Bissigkeit angehen. Man kann davon ausgehen, dass sie das Motto der Springer-Chefs Mathias Döpfner kennen: »Wer mit uns hinauffährt, fährt mit uns auch wieder runter.« Ex-Bundespräsident Christian Wulf hat erfahren, wie schnell das geht. Vor wenigen Tagen kam »Bild« zwar mit der Schlagzeile »Jeder 2. Deutsche will Merkel-Fortsetzung« heraus, aber für den Fall, dass die Kanzlerin im Herbst die Wahlen verliert, will man sich schon mal einrichten. Am wohlsten fühlt sich der Boulevard immer mit der Mehrheit.
Mit der Vermutung, nicht nur Angela Merkels Vater, sondern auch sie selbst hätte dem SED-Staat nähergestanden als bisher eingeräumt, schlagen sich die beiden Autoren auf die Seite der Parteirechten und Merkel-Gegner im CDU-internen Clinch um »konservative Werte«. Und der Streit darum wird auf verlorene Bundestagswahlen so sicher folgen wie der Donner auf den Blitz. Reuth und Lachmann präsentieren das »Mädchen aus dem Osten« als opportunistische Taktikerin und geschulte »Sekretärin für Agitation und Propaganda«. Angela Merkel bestreitet das und besteht darauf, in ihrer Funktion als FDJ-Sekretärin nicht »Gehirnwäsche im Sinne des Marxismus« (so der zwielichtige Günther Krause) betrieben, sondern als Kulturbeauftragte nur Theaterkarten besorgt zu haben. Belege für ihre Lesart haben weder die Autoren noch die Kanzlerin. Aber so wenig man den beiden Autoren bei ihrer Lesart von Protokollen und Rechenschaftsberichten der Betriebsgewerkschaftsleitung folgen kann - sie zitieren diese ohne jedes kritisches Gespür und nehmen sie zum Nennwert wie die Stasi-Prosa -, so wenig muss man ihre küchenpsychologisch grundierten Spekulationen über Merkels Charakter ernst nehmen.
Der Autor (Jhrg. 1944) ist Historiker und Publizist. Er war jahrelang für das Lexikon »Geschichtliche Grundbegriffe« tätig und schreibt für verschiedene schweizerische und deutsche Zeitungen.
Ralf Georg Reuth, Günther Lachmann: Das erste Leben der Angela M., Piper Verlag, München, Mai 2013, 335 Seiten, geb., 19,99 Euro.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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