Deutschland auf der Couch

Margarete Mitscherlichs letztes Buch über ihre großen Themen - Emanzipation und Trauer

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 5 Min.

Im Juni 2012 starb Margarete Mitscherlich in Frankfurt am Main, 95-jährig. Das Konzept zu ihrem letzten Buch, eine Sammlung von Aufsätzen und Interviews, hatte sie gemeinsam mit Karola Brede noch erarbeiten und zwei der Texte selbst durchsehen können. Die Veröffentlichung, so Brede, habe Mitscherlich sehr am Herzen gelegen. Nun ist das Buch bei S. Fischer erschienen; man muss es wohl ihr Vermächtnis nennen.

Margarete Mitscherlich, 1917 in Dänemark geboren, gilt als die »große Dame« der deutschen Psychoanalyse. Zu Recht. Dennoch macht man es sich immer zu leicht, wenn man Etiketten aufklebt, denn sie sind Teil eines Ablagesystems: Man kann Mitscherlich huldigen, ohne zu wissen, von wem und wovon man spricht.

Von wem und wovon spricht man bei Mitscherlich? Stellt man sich die Psyche als Wohnzimmer vor, dann will Psychoanalyse dieses Wohnzimmer aufräumen. Margarete Mitscherlich war es nicht nur ein Anliegen, die Wohnzimmer von Individuen aufzuräumen, sondern das der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Sie war eine politische Frau, und gemeinsam mit ihrem Mann, dem Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, hat sie den Deutschen 1967 mit »Die Unfähigkeit zu trauern« den Spiegel vorgehalten. Nicht nur im sadistischen Sinne, wie sie reflektiert, sondern, um zu heilen - einen Weg aufzuzeigen, wie Deutschland in die Gesellschaft der Völker zurückkehren könnte. Später veröffentlichte Margarete Mitscherlich unter anderem »Die friedfertige Frau« (1985), »Die Zukunft ist weiblich« (1987) und »Über die Mühsal der Emanzipation« (1990). So geben auch Texte zu jenem Thema, mit dem sie sich selbst als Autorin emanzipierte, den Auftakt zu ihrem letzten Buch - die Befreiung der Frau.

Wir lesen über Persönlichkeiten mit herausragender, wenn auch unterschiedlicher Bedeutung für die Frauenbewegung: Simone de Beauvoir, Anna Freud, Lou Andreas-Salomé, Helene Deutsch. Was war für die eine Liebe, für die andere Weiblichkeit? Was überhaupt ist Weiblichkeit, welche Bedeutung überhaupt hat Liebe im gesellschaftlichen Leben der Frau? Fragen, auf die Feministinnen zum Teil bis heute einander widersprechende Antworten geben. Mitscherlich, indem sie sich mit diesen auseinandersetzt, gibt ihre.

Dabei ist es keineswegs pikant, dass sie sich auch kritisch mit Auffassungen ihrer langjährigen Freundin Alice Schwarzer befasst - dazu sind Freundinnen da. Aber Mitscherlichs Stimme ist doch eine bemerkenswerte im feministischen Diskurs, eine sanft korrigierende. So schreibt sie: »Schwarzer wie alle Feministinnen unserer Zeit scheinen in Selbstständigkeit, Leistungsfähigkeit, Unabhängigkeit, Erfolg verbindliche Leitvorstellungen zu sehen, wie sie unübersehbar und seit langem bereits für den Mann unserer westlichen Kultur gelten. Geht es also lediglich um eine Angleichung weiblicher an männliche Leitvorstellungen? Psychoanalytisch spricht man bei Angleichung des Machtlosen an Herrschaft ausübende Schichten und deren Leitvorstellungen von ›Identifizierung mit dem Aggressor‹ ... In ihrer falschen Identifikation hätte die Frau es dann versäumt, die ›mütterlichen‹ Fähigkeiten der Einfühlung, Rücksicht, liebevollen Hilfsbereitschaft als vorbildlich für beide Geschlechter aufzurichten.«

Doch die braven Schäfchen, die will Mitscherlich nicht. Im Gegenteil, sie plädiert dafür, dass Frauen Macht übernehmen. Ohne Macht werde man nichts ändern können in dieser Welt, es gehe darum, was man mit Macht erreichen wolle und welche Ziele man wie verfolge. Glaubte sie, die Ziele und Handlungsweisen von Frauen seien a priori friedfertiger als die von Männern? Sie hoffte es.

Manches hat Mitscherlich bereits früher so formuliert. Doch wie wichtig ihr diese Gedanken waren, zeigt, dass sie sie hier noch einmal prononciert hat. Sind sie doch Beiträge zu Debatten, die dieser Tage geführt werden. Ist Feminismus für eine junge Generation gut ausgebildeter Frauen noch zeitgemäß? Familienministerin Kristina Schröder (CDU) bezweifelt dies, Mitscherlich ist davon überzeugt. Solange es keine wirkliche Gleichstellung von Männern und Frauen gibt, müssen Frauen darum kämpfen. Ob sie eine gesetzliche Frauenquote in Aufsichtsräten börsennotierter Firmen befürwortet hätte? Sie hätte nicht dagegen protestiert.

Im zweiten Teil ihres Buches knüpft Mitscherlich an »Die Unfähigkeit zu trauern« an. Sie thematisiert noch einmal individuelle und kollektive Trauer als Erinnerungsarbeit, in der man auch mit Wut und Schuldgefühlen konfrontiert wird. So sei die Unfähigkeit zur Trauer um den Verlust eines kollektiven Ich-Ideals das Ergebnis einer Abwehr von Schuld, Scham und Angst. »Die Fähigkeit zu trauern würde bedeuten, sich zu erinnern und schmerzlichen Abschied zu nehmen von dem, was wir geliebt und verloren haben.«

Was diesen Klassiker 1967 bei seinem Erscheinen weltberühmt gemacht hat, war die darin vertretene These, dass die Unfähigkeit der Deutschen, nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg um ihre Opfer und den moralischen Bankrott ihres Kulturvolkes zu trauern, eng zusammenhängt mit einer deutschen Art zu lieben. Diese deutsche Art zu lieben - nur lieben zu können, was man vorher idealisiert hat - sei in der »verspäteten Nation« als Abwehr gegen Minderwertigkeitsgefühle besonders stark angelegt gewesen: »Entsprechend mussten andere entwertet werden.«

Fast ein halbes Jahrhundert später fragt Mitscherlich: Wie steht es heute um die Fähigkeit zu trauern in Deutschland? War sie 1987 (»Erinnerungsarbeit«) noch davon überzeugt, dass sich diesbezüglich - in West wie Ost - nichts geändert habe, war sie sich da zuletzt nicht mehr so sicher. Zunehmend konfrontierten sich jüngere und auch ältere Menschen »in großer Offenheit mit der nationalsozialistischen Barbarbarei«, so ihr Erleben.

Auch den Umgang der Westdeutschen mit den Ostdeutschen und den der Ostdeutschen mit sich selbst nach dem Beitritt der DDR bezieht sie ein. Erneut fordert sie Erinnerungsarbeit: »War es die Freiheit, nach der man sich im Osten am meisten sehnte, oder war es der Wohlstand des Westens, nach dem es die Menschen verlangte? Ich frage weiter: Ist es heute nach dem eindeutigen Sieg des Kapitalismus das Geld, das Finanzkapital, das die Welt regiert, oder sind es Freiheit und mitmenschliche Einfühlung, die sich im Leben der Menschen Raum verschafft haben?«

Argumentativ führt sie den Vergleich der DDR mit dem »Dritten Reich« ad absurdum, ebenso die Gleichsetzung der »Stasi« mit der Gestapo. Der Mangel der Westdeutschen an Einfühlung für die Ostdeutschen habe auch mit dieser Geschichtsklitterung zu tun, mit der sie eigene Versäumnisse in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus abwehren. Dies wiederum führe zur Entwertung der Ostdeutschen, deren Selbstwertgefühl schon beschädigt sei - ist der Kreislauf wirklich durchbrochen?

Mitscherlich mahnt, Politik hört nicht zu. Soeben haben CDU-Politiker wieder ein Verbot von DDR-Symbolen gefordert, deren Verwendung im Einzelfall den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllen könne. Herr, wirf endlich Hirn vom Himmel!

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