Großstadt-Brause gegen Dorf-Pastor
Im Aufstiegsduell RB Leipzig gegen Sportfreunde Lotte treffen zwei Klubs aufeinander, die unterschiedlicher kaum sein könnten
Ulrich Wolter meint, 25 000 Zuschauer für das heutige Heimspiel (17.30 Uhr) gegen die Sportfreunde Lotte sind eine ganze Menge. Noch beachtlicher sei jedoch, dass zum Rückspiel am Sonntag auch das Kontingent von 2500 Karten längst vergriffen ist. Die gerne verbreitete These des Geschäftsführers von RB Leipzig lautet schließlich: »Diese große und fußballbegeisterte Stadt wartet auf höherklassigen Fußball.«
Tatsächlich sind die Aufstiegsspiele zwischen den Meistern der Regionalligen Nordost und West eine wegweisende Angelegenheit - für Leipzig mehr als für Lotte. Der generös alimentierte Ableger aus dem Imperium des Brauseherstellers Red Bull drängt zum dritten Mal gen Liga Drei. Zweimal - als noch der Direktaufstieg möglich war - mussten die Berufsfußballer unter dem Rasenball-Deckmantel erdulden, wie der Chemnitzer FC (2011) und der Hallesche FC (2012) den Retortenklub abhängten.
RasenBallsport Leipzig
● Gegründet 2009
● Mitglieder 250
stimmberechtigt 8
Jahresbeitrag 800 Euro
● Etat k.A. (geschätzt 7-9 Mio.)
● Stadion 44 345 Plätze
● Marktwert Team
6,0 Millionen Euro
(transfermarkt.de)
● Leipzig 535 000 Einwohner
Sportfreunde Lotte
● Gegründet 1929
● Mitglieder 1450
stimmberechtigt alle ab 18 Jahre
Jahresbeitrag 132 Euro
● Etat 1,4 Millionen Euro
● Stadion 7474 Plätze
● Marktwert Team
3,8 Millionen Euro
(transfermarkt.de)
● Lotte 4000 Einwohner
Die Zeit haben die in dieser Saison noch ungeschlagenen Leipziger immerhin genutzt, um sich noch mehr in jener Stadt zu verankern, die alle Negativschlagzeilen von Sachsen und Lokomotive leid war. Ulrich Wolter glaubt, »dass die meisten Leute keine Lust auf die Scharmützel der Vergangenheit mehr haben, die sich zwischen den Leipziger Traditionsvereinen lange sehr extrem abspielten.« Er spüre ein Verlangen »nach gutem Fußball in einem herrlichen Stadion in sicherer Atmosphäre«.
In Sichtweite der WM-Arena erfolgt im Herbst der Spatenstich für ein hochmodernes Trainings- und Nachwuchszentrum inklusive Internat. Kostenpunkt: rund 35 Millionen Euro. Nicht nur Viertligaprofis verdienen hier gut, auch Talente sollen beste Bedingungen vorfinden, mit denen die vom VfB Stuttgart geholten Nachwuchskoordinatoren Frieder Schrof und Thomas Albeck Überzeugungsarbeit leisten können. Vorwürfe, RB Leipzig würde systematisch junge Talente weglocken, empfindet Wolter »als Doppelmoral. Ich kann keinen Unterschied dazu erkennen, wenn sie von Leverkusen, Dortmund oder Bremen abgeworben werden. Dann ist es doch besser, diese Spieler hier zu entwickeln.« Schließlich soll die Dritte Liga nur eine Durchgangsstation darstellen. »Wir würden nicht aufsteigen, um uns dort zu etablieren. Wir wollen in die Bundesliga«, sagt Wolter. »Der erste Aufstieg ist der Schwierigste«, ergänzt Sportdirektor Ralf Rangnick. »Wir müssen erst durch dieses Nadelöhr.«
Der 54-Jährige verantwortet parallel die Projekte in Leipzig und Salzburg. Für das globale Kicker-Business ist der Franzose Gérard Houllier zuständig, schließlich gehören auch ein Standort in New York und die Akademien in Brasilien und Ghana zum Marketingvehikel des Dietrich Mateschitz, der gerne auch dem Fußball Flügel verleihen würde.
Als der vom Burnout-Syndrom offenbar gut erholte Rangnick das Gesamtgebilde (»Leistung ist planbar - und damit auch der Erfolg«) vor drei Monaten auf einem Kongress in Düsseldorf darlegte, standen einigen Bundesliga-Managern die Münder offen. Rangnick kopiert, was in Hoffenheim »Erfolg gebracht hat«. Bisweilen kam bei seiner Rede erneut der Oberlehrer in ihm durch, der von einer Spielphilosophie mittels »Schwarmintelligenz« und »Provokationsregeln« fabulierte und gleichzeitig darüber sinnierte, wie »der Barca-Code« zu knacken sei. Zunächst will aber erst einmal das »Lotte-Rätsel« gelöst werden.
Die Sportfreunde Lotte stört vor den Spielen gegen RB Leipzig weniger der neureiche Gegner. Der Meister der Regionalliga West kritisiert den DFB.
An das erste Mal kann sich Maik Walpurgis noch gut erinnern. Vor fünf Jahren war es, als der Musikliebhaber und Fußballtrainer seine Premierenrunde durch Lotte drehte. Wobei von Runde keine Rede sein konnte. »Als ich durchs Zentrum gefahren bin, war da eine Straße und dann kam schon wieder das Ortsausgangsschild - das war‘s«, erzählt der Chefcoach der Sportfreunde Lotte, der mit seinem Team für Mittwoch und kommenden Sonntag eine beachtliche Steinschleudernummer plant.
Der Dorfklub aus dem Tecklenburger Land am Rande Osnabrücks will dem großzügig unterstützten RB Leipzig in der Relegation für die dritte Liga ein Bein stellen. »Wenn man die Rahmendaten miteinander vergleicht, kann man schon von einem Duell David gegen Goliath sprechen. Leipzig hat unglaublich viele Möglichkeiten, sowohl infrastrukturell wie auch wirtschaftlich. Da sind wir deutlich dahinter«, sagt der 39-jährige Walpurgis und wirft einen Blick auf Lottes knapp 7500 Zuschauer fassendes Stadion mit seinen drei Tribünen. Dort, wo die vierte stehen sollte, ragt eine große Werbewand in die Höhe. Sie dürfte fallen, wenn gegen Leipzig tatsächlich der große Coup gelingt. Denn sein Stadion muss der Klub beim Sprung in den Profifußball auf jeden Fall erweitern.
Im 4000-Seelen-Ort Lotte ist der Presseraum gleichzeitig die Klub-Bar, und ergreifen die Trainer nach Spielen hier das Wort, wird vorübergehend eine Trennwand zwischen den Journalistenplätzen und den Fans an der Theke zugezogen. Hier gibt es Geschichten wie die von Manfred Wilke, der emsigen Seele des Vereins, der vom Aufsetzen der Spielerverträge bis zum Rasenmähen nahezu alle Aufgaben übernimmt und, als über dem Vereinsparkplatz eine Solaranlage installiert wurde, eigenhändig die Steine weggeschleppt hat.
Oder die Geschichte von Lottes unterhaltsamem Pastor, der bei den Neujahrsempfängen immer den Stimmungsmacher gibt. Mit seiner Mannschaft habe er den munteren Geistlichen sogar schon besucht, erzählt Walpurgis. »Das liegt zwei, drei Jahre zurück. Aber in diesem Jahr war der Pastor nicht so oft im Stadion, und wir folglich nicht so oft in der Kirche«, schmunzelt der Coach, der in dieser Saison aber auch echte Probleme bewältigen musste.
Schon in den vergangenen Jahren tummelte sich Lotte immer in der Spitzengruppe der Regionalliga West - der Lohn des Erfolgs war, dass die Konkurrenz den Sportfreunden im letzten Sommer acht ihrer wichtigsten Spieler wegkaufte. »Wir konnten da wirtschaftlich nicht mithalten und mussten deshalb 16 Neuzugänge holen. Aber dann hat es eben wieder sehr gut gepasst, und wir konnten das tolle letzte Jahr noch einmal toppen«, lobt Walpurgis sich und seine Stehaufmännchen.
Relegationsgegner Leipzig verpasste den Aufstieg in die dritte Liga vor einem Jahr angeblich mit einem Etat von sieben Millionen Euro. »Bei uns ist es irgendwas mit eins Komma, ich weiß es gar nicht genau. Sind es 1,4 Millionen Euro?«, sagt Lottes Trainer zu diesem Thema arglos. Wirklich bedient ist Walpurgis, der ein defensivstarkes, verschworenes Team betreut, über die DFB-Strukturreformen. »Wir haben mit 86 Punkten eine Rekordsaison gespielt und Leipzig hat gar kein Spiel verloren. Trotzdem müssen beide Klubs noch in die Relegation«, empört er sich und betont: »Es gibt da keinen großen Sieger - es gibt nur einen ganz großen Verlierer.«
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