»Internationale« gegen »Deutschlandlied«
Vor ein paar Tagen gedachten CDU und CSU im Berliner »Tränenpalast« des 17. Juni 1953. Einer Schweigeminute für die Opfer folgte der Hinweis, dass junge Menschen heute den Wert der Freiheit oft nicht mehr schätzen würden. Wogegen sich eine im »Tränenpalast« verabschiedete »Erklärung für Freiheit und Demokratie« richtet, die vor »Verklärung und Verharmlosung der SED-Diktatur« warnt und die Vorzüge der »freiheitlichen demokratischen Grundordnung« benennt, auf welche jegliche Angriffe abgewehrt werden müssten.
Ein Jahrestag, ein symbolischer Ort, Berufung auf das Vergangene zu gegenwärtigen Zwecken: So geht Geschichtspolitik - aber man würde der Union Unrecht tun, ließe man den Eindruck entstehen, es sei nur dieses politische Lager, das sich historischer Ereignisse auf diese Weise bedient. Wann immer ein »Früher« herhalten muss, wenn es um politische Symbolik für und die Produktion von Deutungsmacht über »das Heute« geht, bleibt oft auf der Strecke, was als »historische Wahrheit«, der angeblich einzig und wahren, auch wieder falsch bezeichnet wäre.
Was war der 17. Juni 1953? Ein Akt des Widerstands gegen den Sozialismus? Ein »Volksaufstand«, in dessen Zentrum der Drang nach freien Wahlen und parlamentarischer Demokratie stand? Solche Schablonen sind zwar nicht dasselbe wie die jede basisdemokratische Auflehnung in der DDR verhöhnende SED-Rede vom westlich gesteuerten »faschistischen Abenteuer« oder die zeitgenössische Mutmaßung des westdeutschen Geheimdienstes BND, die Proteste seien von Moskau aus inszeniert worden, um »die Frage der Wiedervereinigung ins Rollen zu bringen und hierfür bestimmte Hemmnisse auf östlicher Seite (Ulbricht etc..) zu beseitigen«. Gemeinsam ist diesen Verkürzungen jedoch eines: Sie können als scharf konturierte Schwarz-Weiß-Bilder zwar den Wunsch nach Eindeutigkeit befriedigen, sie werden aber einer Geschichte nicht gerecht, die sich wissenschaftlich immer anders erzählen lässt als politisch - oder gar aus dem Blickwinkel tradierter persönlicher Anschauung.
Waren es nicht zuletzt Arbeiter mit gewerkschaftlicher Erfahrung aus der Weimarer Zeit, die gegen wachsenden Normdruck nichts anderes taten, als der Parole »um uns selber müssen wir uns selber kümmern« zu folgen? Ja. Hat es tödliche Hetzjagden auf Volkspolizisten gegeben? Ja. Lag die Ursache der Massenproteste in einer falschen, von autoritären Zumutungen geprägten Politik der SED? Ja. Hat die Dynamik des Aufstand unter dem Eindruck des Kalten Krieges im Laufe weniger Stunden mancherorts die sozialen und gewerkschaftlichen Ursprungsmotive überwölbt? Ja. Hat es in der SED-Spitze machtpolitische Auseinandersetzungen gegeben, die wiederum den Aufstand wie seine Folgen mitbestimmten? Ja. Ist der 17. Juni dazu benutzt, mehr noch: missbraucht worden, ihn politisch zu instrumentalisieren? Ja, hier wie dort.
Die Liste ließe sich fortsetzen, und so oft es nötig ist, wird man sein Ja in aufklärerischer Absicht jenen entgegenhalten müssen, die an falscher Stelle mit Nein antworten. Geschichtspolitisches Rückgrat beweist aber auch der, der sich seiner Sache nicht sogleich sicher ist. »Die Genossen waren ratlos«, meldete die DDR-Staatssicherheit in einem Bericht aus jenen Junitagen des Jahres 1953. Offiziell aber durfte es diese Ratlosigkeit, die ja immer auch das Eingeständnis ist, an den richtigen Antworten zwar interessiert zu sein, diese aber noch nicht gefunden zu haben, nicht geben.
Stattdessen hörte man alsbald übertrieben laute Parolen, über das, was zu sein hatte. Dass die Ereignisse des 17. Juni jedoch nur als etwas begriffen werden können, das sich der Eindeutigkeit entzieht, haben Augenzeugen oft geschildert. Der Regisseur Manfred Wekwerth etwa, der davon erzählte, wie Maurer mit roten Fahnen auf dem Berliner Marx-Engels-Platz bei ihrem Protest gegen die Normenpolitik die »Internationale« anstimmten - worauf andere versuchten, sie mit dem »Deutschlandlied« niederzusingen.
Man darf das berechtigte Aufbegehren der einen nicht dadurch bestreiten, dass man den 17. Juni zur alleinigen Sache derer verzerrt, denen es nicht darum ging, den noch jungen Realsozialismus an seine eigenen Ansprüche zu erinnern.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.