Verfassungsschutz im Visier

Nach LINKE und Grünen erwägen auch Piraten, den Nachrichtendienst abzuschaffen / Senator lehnt das als Unfug ab

  • Martin Kröger
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn vom kommenden 22. bis 29. Juni die Aktionstage unter dem Label »Keine Profite mit der Miete! Die Stadt gehört allen!« durchgeführt werden, dürfte in Berlin auch der Verfassungsschutz nicht weit sein. Denn in Berlin wird das mitorganisierende Bündnis »Wir bleiben alle«, das sich nicht nur gegen die rasant steigenden Mieten infolge der Gentrifizierung ganzer Stadtteile, sondern auch für Flüchtlingsproteste und Kleingärten engagiert, inzwischen vom Nachrichtendienst beobachtet.

Und dies, obwohl der Verfassungsschutz in seinem neuesten Jahresbericht selber einräumt, dass der Protest gegen Gentrifizierung »per se ein legitimes gesellschaftliches Engagement ist«. Auch seien die »die vom jugendlichen Rebellentum, alternativen Erscheinungsbild und wirtschaftlichen Nöten geprägten Bewohner von Wohnprojekten« keine Angelegenheit des Verfassungsschutzes.

Berliner Verfassungsschutz und Skandale

Der Berliner Verfassungsschutz wurde am 5. März 1951 gegründet. In seiner Geschichte kam es immer wieder zu Skandalen und Affären, so dass sich der ehemalige CDU-Innensenator Eckart Werthebach Ende Juni 2000 gezwungen sah, das Landesamt für Verfassungsschutz als eigenständige Behörde aufzulösen und als Abteilung in die Senatsverwaltung für Inneres zu überführen, um die Kontrolle zu stärken.

Besondere Bedeutung hatte der Skandal um den ermordeten V-Mann Ulrich Schmücker. Ob der V-Mann von Linksradikalen oder Verfassungsschützern am 5. Juni 1974 im Grunewald umgebracht wurde, konnte auch in vier verschiedenen Prozessen und nach 591 Verhandlungstagen nicht aufgedeckt werden.

Auch nach der Umstrukturierung des Verfassungsschutzes gab es wieder Probleme: Umstritten war etwa die Beobachtung des Sozialforums durch die Behörde. Im November 2012 wurde überdies bekannt, dass der Verfassungsschutz unrechtsmäßig mehrere Ordner mit möglichen Bezügen zum »Nationalsozialistischen Untergrund« hat schreddern lassen. Die damalige Chefin des Amtes, Claudia Schmid, bot daraufhin ihren Rücktritt an, der angenommen wurde. (Martin Kröger)

Dass der Nachrichtendienst dennoch »Wir bleiben alle« unter der Rubrik »Linksextremismus« unter Beobachtung genommen hat, hängt laut dem Berliner Verfassungsschutzchef Bernd Palender damit zusammen, dass das Bündnis sich selber »als Gegenmodell zu den herrschenden Verhältnissen« darstellt. »Wo die Grundregeln dieses Systems verleugnet werden und versucht wird, militant gegen das System zu agieren, wird es für uns zum Problem«, betont der Verfassungsschutzchef gegenüber »nd«.

Dass der Verfassungsschutz den »losen Personenzusammenschluss« der Mietaktivisten von »Wir bleiben alle« ausforscht, der sich erst seit einem Jahr neuzusammengesetzt hat, macht den Piraten Oliver Höfinghoff »wirklich wütend«. Der neue Fraktionschef seiner Partei im Abgeordnetenhaus hat aus diesem Grund in das parteieigene Debattensystem »Liquidfeedback« den Antrag mit der Nummer 2649 eingebracht, in dem gefordert wird, den Verfassungsschutz abzuschaffen. »Alle Verfassungsschutzämter sind viel mehr damit beschäftigt, ihre Lauscher auf jede kleinste linke Bewegung zu richten und übersehen dann halt schnell mal Terrornetzwerke der Nazis, die über zehn Jahre lang Menschen ermorden«, sagt Höfinghoff. Auch der Berliner Verfassungsschutz im Speziellen scheine seine Akten nach dem Motto »Ist das Links oder kann das weg?« zu schreddern oder aufzubewahren.

Mit seinem Vorstoß rennt Höfinghoff bei der Berliner Linkspartei offene Türen ein. Die Sozialisten fordern seit längerem die Auflösung des Nachrichtendienstes. »Der NSU-Skandal hat gezeigt: Für die Bekämpfung rechten Terrors waren die Verfassungsschutzämter mindestens nutzlos, wahrscheinlich sogar hinderlich«, sagt der innenpolitische Sprecher der LINKEN, Hakan Tas. Außerdem werde die Behörde wie aktuell bei den Gentrifzierungsgegnern »immer wieder politisch motiviert als Instrument gegen unliebsame, linksstehende Organisationen und Bewegungen eingesetzt. Dafür, sagt Hakan Tas, sei der Berliner Verfassungsschutz ein gutes Beispiel, der eine lange Geschichte wiederholter Rechtsbrüche und Überwachungsskandale habe. Trotz der Eingliederung des Verfassungsschutzes in die Senatsverwaltung für Inneres und der Einrichtung eines Ausschusses für Verfassungsschutzes zur Jahrtausendwende entwickelte die Behörde weiter ein »gefährliches Eigenleben«, meint Tas zudem. Dies habe nicht nur die jüngste Reißwolf-Aktion verdeutlicht, sondern auch die umfassende Beobachtung des Sozialforums vor einigen Jahren.

Fundamentale Kritik, die auch der Grüne-Abgeordnete Benedikt Lux teilt. Denn neben Linkspartei und Piraten befürworten auch die Grünen schon länger eine Abwicklung des Nachrichtendienstes. »Die zehn Millionen Euro, die wir jährlich für die rund 200 Mitarbeiter des Berliner Verfassungsschutzes ausgeben, könnten wir besser für die Förderung von Demokratie ausgeben«, meint Lux, der auch Vorsitzender des Verfassungsschutzausschusses im Abgeordnetenhaus ist. Aus seiner Sicht hilft gegen fest entschlossene Gewalttäter nur die Polizei und gegen demokratiefeindliche Bestrebungen nur eine engagierte Zivilgesellschaft, die möglichst früh einschreitet, damit wir eine friedliche Gesellschaft bleiben.

Berlins Innensenator selbst will sich auf die Debatte zur Abschaffung des Verfassungsschutzes gar nicht einlassen. Das sei »grober Unfug«, erklärt Frank Henkel (CDU), in dessen Verwaltung der Verfassungsschutz angesiedelt ist, gegenüber »nd«. Natürlich sei auch ein Verfassungsschutz nicht unfehlbar. »Das macht aber seine Arbeit nicht weniger wichtig«, betont Henkel, der den Verfassungsschutz für eine »unverzichtbare Einrichtung« hält, die gebraucht werde, um »extremistische Strukturen zu verstehen, Gefahren zu erkennen und die Zivilgesellschaft über Bedrohungen aufzuklären«. Dem Innensenator selbst geht es nun darum, »Fehlerquellen zu identifizieren und abzustellen«.

Mit ein bisschen Fehlerbehebung wollen es die drei Oppositionsfraktionen indes nicht bewenden lassen. Sie planen langfristig: Der Linkspartei schwebt eine »transparent arbeitende Forschungs- und Dokumentationsstelle« vor. Eingesparte Gelder müssten zur Stärkung zivilgesellschaftlicher Initiativen eingesetzt werden, fordert Hakan Tas. Das sehen die Grünen ähnlich, die ebenfalls eine Dokumentationsstelle für »wirklich demokratiefeindliche Bestrebungen« einrichten wollen. Alles, was wirklich gefährliche Verhaltensweisen sind, »bleibt in Zukunft dem Bundesamt für Verfassungsschutz und dem Berliner Landeskriminalamt vorbehalten«, schlägt Benedikt Lux überdies vor.
Auch der Pirat Oliver Höfinghoff würde die »Spionageabwehr« komplett beim Bundesnachrichtendienst ansiedeln und jegliche strafrechtliche Ermittlungsarbeit in die Hände des Bundeskriminalamtes oder der Landeskriminalämter legen. Die Debatte dürfte sich nach dem Abschlussbericht des Bundestagsuntersuchungsausschusses zum NSU weiter zuspitzen – auch in Berlin. Alles mit dem Ziel, wie Höfinghoff betont: »Berlin zum Vorreiter zumachen, diesen überflüssigen Geheimdienst abzuschaffen.«

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