Der Quatschfresser

DDR-Dramatik als Lesereihe am Berliner Ensemble: »Berliner Kindl« von Irina Liebmann

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Umzingelt von diätischen Empfehlungen, fressen wir das Entscheidende doch unablässig in uns hinein. Setzen uns willig an die eingebrockte Suppe, schlucken, was uns als eigene Meinung auf der Zunge liegt und werden auf diese Art gesellschaftsfähig behäbig. So sammeln wir Kraft fürs Tagwerk. Es besteht darin, das Unwichtige zu horten, das Unnötige aufzubauschen, das Entbehrliche zu heiligen. Alles Quatsch! Quatsch? Mach mal Quatsch!, sagt das Kind zum Erwachsenen - tut der's, adelt er sich selber zum Clown. Aber meist quatschen Menschen bloß, und das ist unlustig bis dorthinaus.

Irina Liebmann träumt die Lösung: ein Wesen zwischen »Mensch und Tier«, den Quatschfresser. Der tilgt, was Quatsch ist: Zustellungsbescheide, Telefone, Geld (auch Westgeld), pädagogische Finger, die auf andere Leute zeigen. Am Ende sogar den Bauarbeiter Paul, der den Quatschfresser gebar: Wer Ordnung in die Welt bringt, vernichtet immer auch Welt; am gefräßigsten ist der Säuberungswille - das ist die Wahrheit, die ihren bösen Weg fand vom Haushalt in die Weltpolitik.

»Berliner Kindl« heißt das Stück von Irina Liebmann, 1988 in Schwerin uraufgeführt, im Rahmen von Christoph Schroths legendären »Entdeckungen«, Regie: Klaus Erforth und Dietrich Kunze. Nun wurde es im Gartenhaus des Berliner Ensembles von zehn Schauspielern gelesen, sechster Beitrag in der BE-Reihe verbotener oder/und vergessener DDR-Dramatik.

Dramaturg Hermann Wündrich spricht von Surrealismus, von Kiezmärchen, von verbrauchter Idylle. Rund ums Brigadistenleben auf einer Berliner Baustelle treibt der Quatschfresser sein rätselhaftes Spiel - »ein Tier, da kommen wir nicht ran«, sagen die Menschen und bekennen so ihr unvollendetes, vom Wildern und Wüten des Bewusstseins gefährdetes, gejagtes und geplagtes Dasein. »Was wird denn gut von dem, was man tut? Am Ende nichts.« Dazwischen Konflikte mit Freunden, Frauen und viel Mühe, einen Sarg in die Erde zu senken. Die Zeit, in der alles spielt, das ist jene, »in der man Toten nicht mehr die Hände faltet«. Plötzlich versinkt man im Schlamm der wasserlosen Spree, aber auch nicht schlecht, immer schon sehnte sich der DDR-Mensch, barfuß übers Wattenmeer zu wandern. Wenn man's nur beherzt träumt, ist das Gute so nah - aller Schlamm sowieso.

Liebmanns Stück erzählt in besonderer Weise, was im Wesen der verdienstvollen BE-Lesereihe von Manfred Karge und Hermann Wündrich liegt: Es präsentiert sich da eine Dramatik, deren herübergerettetes, neu entdecktes Selbstbewusstsein doch auch Scheu, Fremdheit ausstrahlt. Weil viel Stoff aus Zusammenhängen kommt, die nunmehr fehlen. Spürbar beim Hören: Der Text weiß noch, was das ist - aufmüpfig-kecke Geborgenheit in Kontexten, die ihn einst wichtig machten, so klein er selber sein mochte.

Theater zu DDR-Zeiten: Wurzellosigkeit war selbst dort, wo ein Dichter den staatlichen Nährboden ausschlug, ein unbekanntes Wort. Es gab Zärtlichkeit, Ruhe, Unerbittlichkeit. Die Zärtlichkeit kam von Zuschauern, die ein Publikum gemeinsamer Erwartung und Erfahrung bildeten; die Ruhe kam vom Zeitbesitz. Die Unerbittlichkeit aber kam von den Regisseuren, die damit freilich auch nichts weniger als Zärtlichkeit ausdrückten. Gegenüber Dichtern zuallererst. Heute? Pluralismus ist Wert und Watte zugleich.

Irina Liebmann ist vor allem bekannt durch starke, schwingende Prosa; eine Romantikerin des wehen, bitteren Realismus. Mit dem preisgekrönten Buch »Wäre es schön? Es wäre schön!« schuf sie ein bewegendes Porträt ihres Vaters, des einstigen ND-Chefredakteurs Rudolf Herrnstadt, von Ulbricht kalt abserviert; ein Blick in die frühe Deformationspraxis der SED. »Drei Schritte nach Russland« ist das jüngste Buch der in Moskau Geborenen. Annäherung an ein Land, ein Lebensgefühl, an eine immerwährend lohnende Lebensaufgabe: Frieden und Osten von Deutschland aus zusammenzudenken wie Essen und Trinken.

In der Dramatik nun diese Irina Liebmann: vertrackt, geradezu schweigsam im Sagen, beredt im Schweigen; ein Theater der Andeutungen, des spielerisch Absurden - und von einer Sinn- und Seinsbehauptung, die nichts (mehr) wissen will von gelenkten Vorgaben, wie zu leben sei.

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