Die Hälfte des Schimmels
Wie Berlin seine wilden 1990er besichtigt - und dabei die Vokü nicht findet
Ob nicht jemand eine Zeitmaschine parat habe? Das will in ortsüblicher englischer Sprache einer der ersten Gästebucheinträge in der Ausstellung »Wir sind hier nicht zum Spaß« im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien wissen. Die von Paul Paulun und Stéphane Bauer kuratierte Schau über »kollektive Strukturen im Berlin der 90er Jahre« ergänzt nicht nur das kürzlich vorgestellte Buch des »taz«-Kulturredakteurs Ulrich Gutmair über »die ersten Tage von Berlin«. Bis Ende August wird es nicht weniger als drei Diskussionsveranstaltungen, eine Film- und zwei Buchvorstellungen geben. 20 Jahre nach dem Aufbruch des Techno in die Mitte der Gesellschaft - noch 1992 hatte die Love Parade rund 15 000 Teilnehmer und war nur eine Randnotiz, 1994 galten die über 100 000 Besucher in der Stadt bereits als »Wirtschaftsfaktor« - besichtigt das neue Berlin seinen eigenen Mythos.
Das ist keine einfache Übung, denn der Mythos neigt dazu, die Gegenwart in die Vergangenheit zu schmuggeln. Aus unbestimmbaren Gemengelagen werden im Nachhinein lineare Zusammenhänge, das umkämpfte Chaos von gestern wird zur Frühform eines unausweichlichen Heute. Der Ausstellung im Bethanien gelingt es aber, nicht in diese Klischeefalle zu tappen. Schon der schäbige Schulflur-Fußboden, die nie ganz perfekt geweißten Wände, das Winklige und Zufällige am Raumzuschnitt der Galerie verhindern das Aufkommen von falschem »Sinn«; ein Übriges tut die Aufmachung. Das Internetprojekt »Internationale Stadt« etwa, das bei seinem Start im Jahr 1994 eines der ersten Netzwerke mit grafischer Oberfläche, ortsunabhängigem E-Mail-Zugriff und Chatfunktion war, ist anhand beiläufiger Screenshots dokumentiert. Man hätte auch die »Frühform von Facebook«-Schublade ziehen und einen Zusammenhang mit den jungen Computerschaffenden herstellen können, die dieser Tage von Berlin aus angeblich das Internet neu erfinden.
Die volle Ladung des Heute im Gestern bleibt dem Leser auch in Ulrich Gutmairs Buch über den »Sound der Wende« erspart. Immer wieder hebt der Augenzeuge hervor, wie sehr gerade das planlose Treiben die Ostberliner Nachwendezeit ausgemacht habe - und er vergisst auch nicht den Beitrag weniger exponierter Protagonisten, etwa jener Mitarbeiterin der Wohnbaugesellschaft Mitte, die den Techno-Künstlern immer wieder den Zugang zu Räumen eröffnete. Umso befremdlicher ist es freilich, wie systematisch Ausstellung wie Buch in ihrer Erzählung darüber, »wie die geteilte und durch Krieg und Diktaturen versehrte Stadt zu einer pulsierenden Metropole wurde« und die »Wiedervereinigung« in den »Betten der besetzten Häuser« vollzogen worden sei, weite Teile der Ostberliner Nachwende-Subkulturen zu vergessen scheinen.
In Buch und Ausstellung reist man tatsächlich durch ein Nachwende-Berlin ohne »Voküs«, »Infoläden« und Bauwagenplätze. Offensichtlich war Gutmair während der 1990er Jahre tatsächlich nicht ein einziges Mal in Friedrichshain. Dabei gab es gerade dort die meisten besetzten Häuser und eine gewaltige Anzahl an illegalen Clubs, Sälen und Bühnen. Wie fremd dieses Terrain Gutmair geblieben ist, zeigt schon die Art, wie er die Räumung der Häuser in der Mainzer Straße abhandelt: Kommentarlos werden die Darstellungen der Sicherheitsbehörden wiedergegeben. Gutmairs Panorama der Berliner Nachwende-Subkultur kennt nur »Friseur«, »Favela«, »E-Werk« und »Radiobar«, aber nicht das »S.E.K«, nicht den »Fischladen«, nicht die »Multisexuelle Frühlingsparty« und nicht einmal das »Supamolli«. Mindestens die Hälfte des Schimmels, der plötzlich die Welt nach Berlin holte, hat er nie besichtigt.
Damals hat es zwei Ideen von »Subkultur« gegeben, die man grob unter »Mitte« und »Friedrichshain« oder »hedonistisch« und »politisch« subsumieren kann: Wo die einen kurz feierten und dann spurlos verschwanden, haben andere versucht, sich Räume für den »Kiez« zu nehmen. So sehr diese »Verankerung« trotz aller Vokü- und Kaffeeangebote ein frommer Wunsch geblieben ist, so unterschiedlich fiel doch mitunter der Kontakt mit den Eingeborenen aus. Bei Gutmair sind diese bloß Spießer, die nach der Polizei riefen, wenn einer bei Rot über die Straße ging. In Friedrichshain konnte man aber auch erleben, dass die Oma von nebenan mit dem Kuchenblech vor der Tür stand. Im Osten herrschten eben nicht nur, wie Gutmair schreibt, »bis zuletzt Zucht und Ordnung«, sondern auch bestimmte Formen von Alltagssolidarität.
Hier also Mitte, das Neue, Techno, Galerien, postideologische Kreativität, dort nur ein nach Osten verlängertes Kreuzberg voll »Kiezpolizisten« und »autonomen Hardlinern«? Tatsächlich haben sich die Szenen vermischt. Clubs wie der »Suicide Circus« waren Mitte der 90er voll von Autonomen und Antifas, auch in Friedrichshain wummerten die Bässe. Und welcher dieser beiden Pole - zumal nach dem Ende des Techno-Paradigmas in den späten 90ern - mehr zu dem enormen (sub-)kulturellen Kapital beigetragen hat, das diese Stadt seit 1990 anhäuft und auch weiterhin so gern verkaufen möchte, ist weniger leicht zu entscheiden, als Gutmair zu glauben scheint. Im Bethanien verweist immerhin ein zwischen Sony-Walkman und Love-Parade-T-Shirt platzierter Pflasterstein »vom Anfang der 1990er« etwas unbeholfen auf die fehlende Hälfte der Schau.
Dass die Besichtigung des Berlinismus vorerst so selektiv ausfällt, mag auch an den Protagonisten liegen. Während sich »Mitte« eifrig historisiert - erschienen sind mit »Der Klang der Familie« und »Berlinized« bereits ein Buch und ein Film über die dortige Szene -, sind Publikationen über »Friedrichshain« nicht in Sicht. Vielleicht sind dort die Protagonisten mit Kochen beschäftigt: Der »Vokü-Fahrplan« im »Stressfaktor« listete allein für letzten Mittwoch neun Gelegenheiten zum Fassen günstiger und gesunder Nahrung.
Ulrich Gutmair: Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende. Tropen-Verlag, Stuttgart 2013. 256 S., 17,95 €.
Wir sind hier nicht zum Spaß! Kollektive und subkulturelle Strukturen im Berlin der 90er Jahre. Kunstraum Kreuzberg/Bethanien. Täglich geöffnet von 12 bis 19 Uhr. Bis 25. August, Eintritt frei, Führung auf Anfrage.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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