Vom Autorücksitz auf den Heiligen Rasen
Dem jungen Polen Jerzy Janowicz gehört die Zukunft der Tenniswelt, in Wimbledon fordert er nun Andy Murray heraus
Als Jerzy Janowicz sein erstes Interview als Wimbledon-Halbfinalist geben musste, zitterte er am ganzen Körper und brachte kaum einen Satz heraus. Da stand dieser 2,03 Meter große Riese im Spielertunnel, hatte Tränen in den Augen und sagte: »Ich finde im Moment noch nicht die richtigen Worte dafür.« Dafür, dass er als erster polnischer Tennisspieler der Geschichte im Halbfinale eines Grand-Slam-Turniers steht. Dafür, dass er sich jetzt an diesem Freitag mit einem anderen Nationalhelden messen darf: Andy Murray.
Der Brite hatte seinen Fans im letzten Match des Tages auf dem Centre Court einige Stunden der Qual bereitet. 0:2 lag der 26-Jährige nach Sätzen gegen Fernando Verdasco schon hinten. »Es war pure Folter«, schrieb die »Daily Mail« am Donnerstag. Man hatte die traurig-tobenden Titelseiten der bunten Blätter schon vor sich gesehen: Wieder nix mit dem Ende der 77 Jahre währenden Titeldürre im Vereinigten Königreich. Wieder nix mit dem ersten britischen Wimbledon-Champion seit Fred Perry im Jahr 1936.
Der Olympiasieger aber drehte dieses irrwitzige Match noch und gewann 4:6, 3:6, 6:1, 6:4, 7:5. »Gratuliere Andy, aber bitte tu uns das nicht noch mal an«, schrieb der »Daily Telegraph«. Die Sehnsucht nach einem der Ihren auf dem Wimbledon-Thron ist gewaltig auf der Insel. Fünfmal nacheinander schaffte es der schnoddrige Schotte mit der Nuschelstimme in die Runde der besten Vier beim Heim-Grand-Slam. Zum Titel reichte es nie. Und in diesem Jahr steht nun der vielleicht vielversprechendste Neuling im Weg.
»Das wird schwer. Er hat hier bislang sehr gut gespielt und ist absolut überzeugend aufgetreten«, sagte Murray über seinen nächsten Gegner. Janowicz begeistert die Zuschauer nicht nur mit seinen Aufschlägen, die bis zu 225 Kilometer pro Stunde schnell sind, seinen gefühlvollen Stoppbällen oder seinem tückischen Rückhand-Slice. Der Pole bringt die Zuschauer auch hinter sich, weil er seine Emotionen auf dem Platz auslebt. Er schimpft - mit sich selbst und wahlweise dem Stuhlschiedsrichter oder dem Linienrichter. Er schmeißt auch mal eine Flasche oder wirft nach einem Sieg seine Schuhe ins Publikum. Nach dem Viertelfinalsieg gegen Landsmann Lukasz Kubot erstaunten die beiden Freunde mit einem nicht gerade alltäglichen Trikottausch. Gras ist allerdings nicht gerade der Lieblingsbelag des Polen. »Ich spiele lieber auf Sand- oder Hartplätzen. Auf Rasen kann ich nie trainieren, weil wir in Polen keine solchen Plätze haben«, sagte er.
Janowizc gehört die Zukunft. Am kommenden Montag wird er in die Top 20 der Welt aufrücken, als erster Pole seit dem eleganten Wojtek Fibak, der in den 1980er-Jahren 15 Einzel- und 52 Doppeltitel gewann. »Darauf habe ich gewartet, davon habe ich geträumt«, sagte Janowicz. Erst vor einem Jahr hatte er in Wimbledon sein Grand-Slam-Debüt gegeben und gegen Florian Mayer (Bayreuth) in der dritten Runde nach zwei vergebenen Matchbällen verloren. 2012 konnte nicht zu den Australian Open reisen, weil der Flug zu teuer war. Janowicz hatte keine Sponsoren, bei Turnieren schlief er auch schon mal in seinem Auto.
2010 gewann er sein erstes Challenger-Turnier im französischen St. Remy, 2012 folgten drei weitere Titel in der zweiten Liga in Rom, Poznan und Scheveningen. »In Rom hat sich alles verändert. Er hat drei Spieler aus den Top 100 geschlagen. Da hat es klick gemacht«, sagt sein finnischer Trainer Kim Tiilikainen.
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