Kann Revolution süchtig machen?
In Kairo überwiegt die Euphorie, in Städten und Dörfern außerhalb der Nil-Metropole die Furcht
Kann Revolution süchtig machen? Die Menschen, jung und alt, Männer, Frauen, die an diesem Donnerstagnachmittag die Straßen des Stadtzentrums von Kairo bevölkern, sind jedenfalls berauscht, regelrecht betrunken von dem, was sich in diesen Stunden in ihrem Land abspielt.
»Wir haben Mursi gestürzt«, sagt Muna, eine 23-jährige Studentin, die sich mit Freunden in einem schicken Café getroffen hat. Die Gruppe spricht von Freiheit, von Gleichheit, von Einheit, hört gar nicht auf, davon zu sprechen, wie so oft an diesem Nachmittag, wenn man mit Bewohnern dieser armen und reichen Stadt spricht, in der Freiheit, Gleichheit, Einheit so viele Jahrzehnte lang Fremdwörter waren.
Heute erleben die Kairoer ihren zweiten Frühling, einen Frühling, der nach Ansicht vieler besser ist als der erste: »Wir können jetzt durchatmen«, sagt die junge Frau. »Wir können in die Zukunft blicken.«
Wirklich? »Es ist eine Katastrophe«, sagt Mahmud al Badry. Er ist Hotelchef in Hurghada, einem Badeort am Roten Meer. Mehrere Tausend Menschen leben allein hier von ausländischen Touristen. Quasi über Nacht sind die meisten von ihnen arbeitslos geworden. »Die Leute wollen nach Hause«, sagt al Badry, »und ich verstehe das: Die Touristen können das, was im Moment geschieht, ja nicht einschätzen.« Dabei habe das Geschäft gerade angefangen sich zu erholen, nachdem der erste Frühling, der als »Arabischer Frühling« bekannt wurde, den Tourismus für Monate zum Erliegen gebracht hatte.
Im Finanzministerium in Kairo nimmt man kein Blatt vor den Mund: »Wir müssen sehr schnell zur Normalität zurückkehren, sonst gehen hier bald die Lichter aus«, sagt ein Mitarbeiter der oberen Verwaltungsebene. Schon bevor das Militär die Verfassung aussetzte und Präsident Mohammed Mursi absetzte, nahm eine Arbeitsgruppe aus Mitarbeitern wichtiger Ministerien die Arbeit auf, um die wirtschaftlichen Folgen der Ereignisse möglichst abzufedern.
Gelungen sei das nicht, heißt es. Viel zu viel sei im Laufe der vergangenen Monate falsch gemacht worden. So wurde das Finanzministerium seit dem Amtsantritt Mursis von drei verschiedenen Ressortchefs geleitet, die immer dann abgesetzt wurden, wenn potenziell kontroverse Schritte anstanden. Zum Beispiel dieser: Umgerechnet rund 17 Milliarden Euro an Steuern schulden die Bürger dem Staat mittlerweile. Doch statt sie einzutreiben, nahm die Regierung lieber teure Kredite auf, bis ihr niemand mehr Kredit geben wollte.
Und so sind die wirtschaftlichen Folgen deutlich sichtbar: Die Banken sind weitgehend geschlossen, viele Geldautomaten leer. Auf den Straßen sind ungewöhnlich wenige Privatautos unterwegs, weil die Spritpreise innerhalb weniger Tage in die Höhe geschossen sind.
Doch auf dem Tahrir-Platz, aber auch bei Muna und ihren Freunden, zählen gerade andere Werte: »Jetzt, wo Mursi weg ist, werden wir das alles in den Griff bekommen«, ist der 24-jährige Tarek überzeugt. »Haben Sie das gestern Nacht gesehen? Wie das Land zusammensteht, wenn es drauf ankommt?«
Das ganze Land? In den Städten und Dörfern außerhalb Kairos, dort, wohin sich kaum jemand verirrt, ist die Stimmung eine andere. In Arab al Saf, einer Kleinstadt einige Kilometer nilaufwärts, ist von Euphorie nichts zu spüren. In Orten wie diesen, arm, staubig, konservativ, hatten sich vor über einem Jahr die Wahlen entschieden; Mursi, das war der Präsident der Menschen in der Peripherie, und er ist es geblieben.
»Ich hätte mir gewünscht, dass er standhaft bleibt«, sagt ein Ladenbesitzer. »Er wurde gewählt, und niemand kann sagen, dass die Wahl nicht frei war. Selbst die Wahlbeobachter aus dem Ausland haben gesagt, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist.«
Der Mann will nicht einmal seinen Vornamen nennen. Denn er steht der Muslimbruderschaft nahe, wie sehr viele in solchen Orten. Jahrzehntelang hatten sie unter Hosni Mubarak ihre Ansichten verschweigen müssen. Dann kam der Arabische Frühling, und plötzlich war die Muslimbruderschaft legal, für alle sichtbar.
Bis jetzt. Während in Kairo Freiheit und Einheit gefeiert werden, fürchten die Menschen hier erneut Unterdrückung und Illegalität. Denn in diesen Stunden deutet alles darauf hin, dass dies geschehen könnte: Noch während am Mittwochabend ein Treffen von Militärführung, Oppositionsbewegung Tamarud und Vertretern der religiösen Gruppierungen stattfand, ging die Armee gegen Medien vor, die der Muslimbruderschaft nahe stehen. Fernseh- und Radiosender wurden abgeschaltet, Zeitungen erschienen am Morgen nicht. Kurz darauf wurde ein Ausreiseverbot gegen Mursi und andere Führungskräfte der Muslimbruderschaft und der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei verhängt. Und nachdem die Aussetzung der Verfassung und die Absetzung des Präsidenten bekannt gegeben worden waren, begannen Soldaten, Vertreter der Muslimbruderschaft festzunehmen.
Sprecher des Militärs sagen, dadurch solle ein langer Machtkampf verhindert werden, und verweisen darauf, dass die Stimmung unter Mursis Anhängern extrem aggressiv sei. »Es geht nur darum, weiteres Blutvergießen zu verhindern«, sagt Hescham Hassan, Sprecher von Generalstabschef Abdel Fatah al-Sisi, und verweist darauf, dass es Pro-Mursi-Demonstranten waren, die immer wieder geschworen hatten, den Präsidenten zu verteidigen, bis »sie in einem See aus Blut liegen«.
Notwendig seien diese Schritte, sagen auch Muna, Tarek und ihre Freunde - und so ist es in diesen Stunden überall in Kairo-Mitte zu hören, in einer Welt, die irgendwie verkehrt scheint: Es ist gerade erst zweieinhalb Jahre her, dass sich Militär und Demonstranten als Feinde gegenüber standen. Heute dagegen muss jeder, der das Wort »Putsch« oder »Coup« verwendet, einen Vortrag über sich ergehen lassen: Es sei eine Revolution. Mit Unterstützung des Militärs.
»Natürlich ist jede politische Gruppierung willkommen, an der Gestaltung der Zukunft mitzuarbeiten«, wird immer wieder gesagt, von den Menschen auf der Straße, von Übergangspräsident Adli Mansur, aber auch von der Nationalen Rettungsfront, dem Bündnis bisheriger Oppositionsparteien.
Doch ob wirklich jeder die Chance bekommt, das liegt nicht in den Händen Munas und Tareks, auch nicht in den Händen des Parteienbündnisses und der Tamarud-Leute. Über all die Gespräche, die Euphorie wachen an den Straßenecken Soldaten, die zum ersten Mal seit über einem Jahr wieder schwer bewaffnet sind.
Es ist Nachmittag geworden, der Rausch lässt nach. Die ersten werden nachdenklich. »Wenn ich mir das so anschaue, bin ich nicht so sicher, ob wirklich das Volk die Macht übernommen hat«, sagt ein Journalist von »Al Ahram«, während er auf einen Bus wartet. »Letzten Endes wird nichts passieren, was die Militärführung nicht will. Und ob die das Gleiche will wie das Volk - wir werden sehen.«
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