Frisch verliebt
Sabine Lisicki steht im Wimbledonfinale und könnte die Tennisleidenschaft neu entfachen
Wimbledon ist ein heiliger Ort: Was hier an Beachtenswertem passiert, kann man fast immer historisch nennen - welche Sportveranstaltung kann schon auf das Jahr 1877 verweisen? Wenn also die Berlinerin Sabine Lisicki und ihre Gegnerin Marion Bartoli aus Frankreich am Samstag um 15 Uhr zum Finale des Dameneinzels den Rasen des »All England Lawn Tennis Club« betreten, muss zurück geschaut werden: Vor 14 Jahren stand hier letztmals eine Deutsche im Endspiel - Steffi Graf, die damals der Amerikanerin Lindsay Davenport unterlag.
In jenem Jahr trat Steffi Graf im Alter von 30 Jahren zurück, nach 377 Wochen als Weltranglistenerste. Es war das Ende jener Ära, in der Tennis dem Fußball in Sachen Popularität kaum nachstand. 3,9 Millionen Zuschauer schauten 1999 noch bei Steffi Grafs Niederlage zu - bei einem Sender, der Deutsches Sportfernsehen hieß und nur selten Sport zeigte.
Sabine Lisickis nervenaufreibenden 6:4, 2:6, 9:7-Halbfinalsieg gegen die Polin Agnieszka Radwanska sahen am Donnerstagabend 230 000 Zuschauer in Deutschland - eine Minderheit, die sich unter all jenen fand, die Lust darauf hatten, das Spiel zu sehen und die noch dazu den Pay-TV-Sender Sky abonniert haben - und zwar über das Fußball-Package hinaus. Die Liebe der Deutschen zum weißen Sport ist deutlich abgekühlt seit dem Halsüberkopfverlieben 1985, als ein 17-Jähriger aus Leimen wie aus dem Nichts eben jenes legendäre Wimbledonturnier gewann.
Anno 2013 kann man unbeschwert am ersten Juliwochenende zu Kaffee und Kuchen in den Garten laden, was in der Ära von Boris Becker, Michael Stich und Steffi Graf immer ein gewagtes Unterfangen gewesen wäre: Bis zu 15 Millionen Deutsche saßen damals bei den Grand-Slam-Turnieren vor den Fernsehern - bei Matches, die oft mehrere Stunden dauern können, weil es in London so oft regnet, und weil alles erst vorbei ist, wenn auch der letzte Punkt errungen ist. Spiel. Satz. Sieg. Und nicht etwa dann, wenn der Schiedsrichter pfeift.
Sabine Lisicki, 23, Weltranglisten-23. mit Wohnsitzen in Berlin und Florida, hat das Zeug dazu, die Tennisleidenschaft der Deutschen neu zu entfachen. Sie lacht und sie weint auf dem Platz, sie scherzt mit dem Publikum und sie weiß schon lange, was sie will: Nummer eins werden. Der deutsche Boulevard nennt sie Bum-Bum-Bine, die Londoner Yellow Presse witzelt über »Doris Becker«. Die ARD bemühte sich gestern vergeblich, die neue Tenniseuphorie ins öffentlich-rechtliche TV zu lenken, doch Sky lehnte ein ARD-Angebot als »nicht ausreichend« ab. Wimbledon läuft auf am Sonnabend Sky, ab 17.40 Uhr hat »Das Erste« eine Zusammenfassung geplant.
Im internationalen Maßstab ist Tennis noch immer ein Quotenbringer und eine der wenigen universellen Sportarten. Vielleicht, weil die geschniegelten Damen und Herren einen Traum von Glück und Wohlstand verheißen, in ihren gebügelten Trikots auf dem kurz geschorenen Rasen? Dem Wimbledon-Halbfinalisten Novak Djokovic (Serbien) jedenfalls wird in Indien ebenso gehuldigt wie in Argentinien, auch in Russland, Frankreich oder Japan erinnern sich noch viele an seinen Rekord von 2011: 53 Siege in 54 Spielen. Boris Becker ist einer der populärsten Deutschen in Großbritannien, in der BBC ist er Tenniskommentator und damit eine Institution. Becker, twitterte gestern begeistert: »Sabine Lisicki rocks!«
1989, im Geburtsjahr von Sabine Lisicki, gewann Boris Becker gerade seinen dritten Wimbledontitel, die Tenniseuphorie hatte ihren Höhepunkt erreicht. Sogar in der DDR, wo man das englische Rückschlagspiel als damals nichtolympische und Sportart eher zu ignorieren suchte - das nd nannte Becker dereinst eine »Galionsfigur des Konservatismus«, hatten die wenigen Tennisvereine viel Zulauf. Der 47-fache DDR-Meister Thomas Emmerich aus Magdeburg war allen Sportfans ein begriff, obwohl er sich nie mit dem Profis messen konnte.
Nur an einem Ort lief ein paar Jahre später die deutsche Tennisobsession 1993 schließlich aus dem Ruder: In Görsbach (Thüringen), wo ein verwirrter Mann namens Günter Parche der Spielerin Steffi Graf derart huldigte, dass er eines Tages erstmals seinen Heimatkreis verließ und nach Hamburg aufbrach. Mit einem Messer stach er damals auf Grafs schärfste Konkurrentin Monica Seles aus Serbien ein und verletzte sie leicht. Die junge Frau aus Novi Sad erholte sich psychisch nie wieder ganz von der Attacke, der tenniskranke Attentäter lebt heute in einem Heim.
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