Auf Kosten der Balkanvölker
Wie auf dem Berliner Kongress 1878 ein großer Krieg verhindert wurde
In der ersten Hälfte des Jahres 1878 stand Europa zeitweilig am Rande eines großen Krieges. Seit April 1877 war der Russisch-Türkische Krieg im Gange. Für die Balkanvölker war dies ein nationaler Befreiungskrieg. Gleichzeitig war es ein Griff des Zarismus nach Konstantinopel (Istanbul), das die panslawistischen Kreise »Zari-grad« nannten.
Am 10. Dezember 1877 hatten die Russen den entscheidenden Erfolg errungen: Der türkische General Osman Pascha, der die Festung Plewna 143 Tage lang gegen russische und rumänische Truppen verteidigt hatte, musste mit seinen 43 000 Soldaten kapitulieren. Jetzt war für die russischen Truppen der Weg nach Konstantinopel frei. Am 20. Januar 1878 erreichten sie Adrianopel (Edirne), am 31. Januar schlossen Russen und Türken einen Waffenstillstand, am 3. März diktierte die russische Seite den Präliminarfrieden von San Stefano (türkisch: Yesilköy, ein Vorort von Konstantinopel). Der Vertrag sah insbesondere die Errichtung eines Großbulgarien mit einem Gebietsumfang von 164 000 Quadratkilometern vor. Es sollte neben dem Kernland auch Mazedonien und einen großen Teil Thrakiens umfassen und im Süden bis an das Ägäische Meer reichen. Zwei Jahre lang sollten russische Truppen im Lande bleiben. Da Großbulgarien bis an die Ägäis reichen sollte, hätte Russland so indirekt einen Zugang zum Mittelmeer erhalten, was den Briten sehr missfiel. Die Möglichkeiten für Österreich-Ungarn, auf dem Balkan zu expandieren, wären stark eingeschränkt worden. Österreich-Ungarn und Großbritannien sahen ihre Interessen stark beeinträchtigt und forderten eine Revision des Vertrags. Bereits am 13. Februar war vor Konstantinopel ein britischer Flottenverband vor Anker gegangen - in Sichtweite der russischen Truppen in San Stefano. Es drohte ein Krieg Großbritanniens und Österreich-Ungarns gegen Russland.
Der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck wollte eine solche Konfrontation unbedingt verhindern, denn er hätte sich dann zwischen Russland und Österreich-Ungarn entscheiden müssen. Vom 13. Juni bis 13. Juli 1878 tagte dann der berühmte Berliner Kongress. Bismarck gelang es, die Kriegsgefahr abzuwenden und zwischen Russland, Österreich-Ungarn und England einen Kompromiss auszuhandeln. Russland erhielt den 1856 verlorenen Teil Bessarabiens zurück, dazu Teile Armeniens mit Kars, Ardahan und Batumi. Bulgarien, nun auf 64 000 Quadratkilometer verkleinert, wurde ein autonomes tributpflichtiges Fürstentum, sein südlicher Teil (Ost-Rumelien) hingegen blieb eine Provinz der Türkei mit Verwaltungsautonomie. Serbien, Montenegro und Rumänien wurden unabhängig. Österreich-Ungarn besetzte Bosnien und die Herzegowina. Großbritannien hatte sich zuvor von der Türkei die Zypern abtreten lassen.
Die herrschenden Kreise Russlands waren mit den Ergebnissen des Berliner Kongresses nicht zufrieden. Als den Hauptschuldigen dafür, dass sie einen Teil ihrer Ziele nicht erreicht hatten, betrachteten sie Bismarck. Das trug zu einer Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen bei. Bismarck schloss deshalb schließlich im Oktober 1879 ein Bündnis mit Österreich-Ungarn: den Zweibund. Beide Mächte sicherten sich für den Fall eines russischen Angriffs militärischen Beistand zu. Zwei Jahre später schloss Bismarck mit Russland und Österreich-Ungarn den Dreikaiservertrag, der die Vertragspartner zu wohlwollender Neutralität verpflichtete, würde einer angegriffen.
Die nationalen Interessen der Balkanvölker allerdings waren auf dem Berliner Kongress ignoriert worden. Der Balkan wurde nun mehr und mehr zum »Pulverfass Europas«.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.