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Verdrängung sorgt für Unmut

Über 100 Teilnehmer beim ersten Treffen des »Bündnis für bezahlbare Mieten Neukölln«

  • Tim Zülch
  • Lesedauer: 3 Min.

Mietsteigerungen, unsinnige Modernisierungen und nicht beseitigte Mängel - dass die Situation auf dem Mietmarkt eines der drängendsten Probleme in Neukölln ist, zeigen am Montagabend die Berichte der weit über hundert Bewohnerinnen und Bewohner des Bezirks. In der neuen Quartiershalle in der Rütlistraße erzählen sie sich beim ersten Treffen des »Bündnis für bezahlbare Mieten Neukölln« gegenseitig von ihren leidvollen Erfahrungen.

Laut einer Studie der GSW sind die Mieten in Berlin für frei angebotene Wohnungen im vergangenen Jahr um 13 Prozent gestiegen. »Berlins Wohnungsmarkt erlebt den stärksten Miet- und Kaufpreisanstieg seit über 20 Jahren«, heißt es dort. Neukölln ist einer der dynamischsten Märkte. Hier müssen Mieter - teilweise von einem niedrigen Niveau her kommend - saftige Mietsteigerungen verkraften. So stiegen die Mieten im letzten Jahr laut GSW-Studie am Maybachufer um zwölf Prozent, an der südlichen Sonnenallee sogar um 24 Prozent - im Mittel. Inzwischen bewegen sich die Nettokaltmieten für das nördliche Neukölln meist zwischen sieben und neun Euro.

Dass diese Entwicklung für Unmut sorgt, ist in der von grellem Neonlicht erhellten und durch den großen Andrang stickigen Quartiershalle deutlich zu spüren. Durch alle Schichten scheint sich die Problematik inzwischen zu fressen. Heidi Thomas von der Mieterinitiative »Fulda-Weichsel« meldet sich zu Wort und sieht sich als Beispiel für diese Verdrängung. Seit fünf Jahren kämpft die Initiative gegen die Modernisierung ihres Hauses und die damit verbundene Mietsteigerung. »Ich möchte ein fröhlicher Mensch bleiben«, sagt sie, »aber was passiert, wenn man sich die Miete nicht mehr leisten kann oder wenn nach Zahlung der Miete nichts mehr für andere Dinge übrigbleibt? Ich will nicht nach Marzahn.«

Ein anderer Teilnehmer berichtet aus Friedrichshain, wo in knapp zehn Jahren die Hälfte der Wohnbevölkerung ausgewechselt wurde, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten konnte. In Neukölln müssten »Ballermannisierungseffekte« wie in der Simon-Dach-Straße vermieden werden, sagt er. Ein Band mit Glöckchen signalisiert sein Redezeitende. Dann werden Arbeitsgruppen gebildet, in denen sich lebhafte Diskussionen entwickeln. Anne Helm, Direktkandidatin der Piratenpartei für die Bundestagswahl, berichtet aus ihrem Haus am Böhmischen Platz. Ihre alte Nachbarin wohnt im fünften Stock des Hauses ohne Fahrstuhl. Als Mieter im Erdgeschoss auszogen, wäre ihre Nachbarin dort gerne eingezogen. Doch der Vermieter schlug einen saftigen Betrag auf die Miete drauf, den sich die Nachbarin nicht leisten konnte - sie muss nun immer noch zu Fuß in den fünften Stock.

»In Schweden kann man Wohnungen tauschen«, erinnert sich jemand. »So können alte Menschen, die in großen Wohnungen leben, mit jungen Familien, die in einer für sie zu kleinen Wohnung wohnen, ohne Mietsteigerung einfach wechseln.« Ein Pärchen erzählt, dass sie in den letzten zwei Jahren viermal umgezogen seien. »Wir kriegen einfach keinen festen Mietvertrag und hangeln uns von Untermiete zu Untermiete.« Claudia aus der Karl-Marx-Straße hat da mehr Glück. »Ich habe den Vorteil, bei einem der fairsten Vermieter in Neukölln zu wohnen«, sagt sie. »Der sagte mir mal, wenn er die Miete nehmen würde, die andere Vermieter nehmen, könnte er nicht mehr ruhig schlafen.« Sie zahlt rund 3,50 kalt Euro pro Quadratmeter, davon können die meisten anderen hier nur träumen.

Peter Becker, ehemaliger Gemeindereferent in der Christophoruskirche im Reuterkiez, läutet die Schlussrunde ein und sammelt Forderungen aus den Arbeitsgruppen. Einige wollen noch eine Resolution verabschieden. »Das ist noch zu früh«, heißt es von anderer Seite. »Wir sollten da nichts übereilen.« Die Veranstaltung hat zumindest viel Engagement sichtbar gemacht und neue Anstöße geliefert. Der Quartiersrat Reuterkiez plant als Fortsetzung einen Runden Tisch, um konkreter ins Gespräch zu kommen.

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