++Livebericht aus Kairo: El-Baradei verlässt Ägypten++
Übergangsregierung lehnt internationale Vermittlungsbemühungen ab
13:26 Mohammad El-Baradei hat soeben Ägypten in Richtung Wien verlassen. Der ehemalige Chef der in Wien angesiedelten Atomenergieorganisation und Friedensnobelpreisträger war am Mittwochabend aus Prostest vom Amt des Vize-Präsidenten zurück getreten. Der Nachrichtensender CNN berichtet, El-Baradei habe am Flughafen keine Stellungnahme abgeben wollen. Deshalb stehen nun eine ganze Reihe von Spekulationen im Raum: Es wird gemutmaßt, dass er nicht nach Ägypten zurück kehren wird. Manche glauben aber auch, dass er versucht, im Ausland, weitab vom Schlaglicht der Medien, einen Ausgleich zwischen den Konfliktparteien zu erreichen.
13:01 Ägyptens Außenminister Nabil Fahmy hat sich gegen eine »Internationalisierung« des Konflikts ausgesprochen: Die werde nur zu einer weiteren Polarisierung führen, und die Versöhnung behindern. Auch die Einstellung von Entwicklungshilfeprojekten werde die Übergangsregierung nicht davon abhalten, Recht und Ordnung durch zu setzen.
Damit reagierte er auf vor allem auf die europäischen Regierungen, die angekündigt haben, ihre Beziehungen zu Ägypten, und vor allem Hilfszahlungen und gemeinsame Projekte, auf den Prüfstand stellen zu wollen.
12:48 Die Anhänger der Muslimbruderschaft, die sich in der Fatah-Moschee verschanzt hatten, haben gestern nachmittag das Gebetshaus verlassen. Zuvor hatte ein Schütze, der sich im Minarett postiert hatte, auf die Sicherheitskräfte geschossen, woraufhin Polizei und Militär das Feuer erwiderten. Beim Verlassen der Moschee mussten die Demonstranten dann teilweise vor aufgebrachten Zivilisten geschützt werden. Sehr viele wurden allerdings auch fest genommen.
Insgesamt, so das Innenministerium, habe es seit Freitag mehr als 1000 Festnahmen gegeben, wobei es hierbei unmöglich ist zu sagen, wie vielen der Festgenommen auch eine Anklage droht: In dieser Situation passiert es immer wieder, dass Menschen zur Feststellung der Personalien mit auf die Polizeistation genommen und dann kurz darauf wieder entlassen werden.
Samstag, 17. August
15:07 Ägyptens Gesundheitsministerium hat nun neue Opferzahlen veröffentlicht: Am Freitag seien 173 Menschen ums Leben gekommen, 95 davon in Kairo. Noch einmal: Das Ministerium zählt nur die Toten, für die auch ein Totenschein ausgestellt worden ist.
Aus der Umgebung der Fatah-Moschee werden derweil Schüsse gemeldet; Genaueres ist aber nicht bekannt. Offiziell hatten Polizei und Armee den Anhängern der Muslimbruderschaft, die sich seit der vergangenen Nacht dort aufhalten, freies Geleit angeboten. Doch nur wenige scheinen das Gebäude verlassen zu haben. Mehrere Medien spekulieren darüber, dies geschehe aus Angst, von Sicherheitskräften festgenommen zu werden, oder von Zivilisten angegriffen zu werden. Tatsächlich ist aber auch hier wenig Konkretes bekannt.
Regierungschef Hasem al-Beblawi denkt derweil darüber nach, die Muslimbruderschaft zu verbieten - so, wie es in der Ära Mubarak Jahrzehnte lang der Fall gewesen sei. Im Anbetracht der Lage dürfte ein solches Verbot allerdings eher symbolischer Natur sein.
12:56 Hallo. Ich melde mich zurück und möchte gerne allen Lesern ein möglichst angenehmes Wochenende wünschen.
Carl Bildt, der schwedische Außenminister, hat heute getwittert, in drei Tagen seien in Ägypten mehr Menschen getötet worden als im Irak in einem Monat: »Und der Irak macht mir Sorgen«
Aktuell deutet allerdings nichts deutet darauf hin, dass Übergangsregierung oder Sicherheitskräfte den Rücktritt des Vize-Präsidenten Mohammad al-Baradei oder die überwiegend massive Kritik aus dem Ausland zum Anlass für eine kurze innere Einkehr genutzt hätten - ganz im Gegenteil: Man rechtfertigt das Vorgehen, man verweist auf die Angriffe von Muslimbrüdern auf christliche Einrichtungen und Polizeistationen, auf die Lage im Sinai.
Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums versuchte heute morgen mir gegenüber, auch Israel als Begründung für die Notwendigkeit des Einsatzes der Sicherheitskräfte ins Spiel zu bringen. Man habe vertragliche Verpflichtungen den Partnern in der Welt gegenüber, die man einhalten müsse, sagte er; falls die Muslimbrüder die Oberhand gewinnen, würde dies über kurz oder lang zur Gefahr für Israel.
In israel selbst will man damit übrigens nichts zu tun haben: Hatte der ehemalige Verteidigungsminister Ehud Barak noch Tage zuvor der New York Times gesagt, er denke, dass die »gesamte Welt« Generalstabschef, Verteidigungsminister und Vize-Regierungschef Abdelfattah al-Sisi sollte, herrscht seit Mittwoch absolute Funkstille, überall, in Israel. Es dürfe nicht einmal im Ansatz der Eindruck entstehen, dass Israel das Vorgehen der Sicherheitskräfte unterstütze oder gar gut heiße, sagt ein Mitarbeiter des Außenministeriums in Jerusalem.
Allerdings: Auf beiden Seiten wird zunehmend »ausländischen Kräften« die Schuld an der Eskalation gegeben. So rechtfertigen jene, die christliche Einrichtungen angreifen, die Angriffe damit, »Kreuzritter« hätten Polizei und Militär dazu aufgestachelt, gegen Muslime vorzugehen, um Ägypten zu einem christlichen Land zu machen (grob mit meinen eigenen Worten zusammen gefasst). Und auf Seiten der Unterstützer der Übergangsregierung wird behauptet, das Ausland, vor allem die Türkei und Israel unterstützten die Muslimbruderschaft, um Ägypten zu destabilisieren.
Propaganda spielt dabei auf beiden Seiten eine große Rolle: Beide Lager haben ihre eigenen Informationsquellen; Fernsehsender, Medien, aber auch Regierungssprecher und Prediger, die diese Ansichten nähren.
Und auf beiden Seiten haben sich Milizen gebildet: Gruppen, die auf Seiten der Muslimbruderschaft zunöchst christliche Einrichtungen angriffen. Und Gruppen, die auf Seiten der Übergangsregierung, Straßensperren errichten, sich teils auch an den Kämpfen beteiligen, und seit Samstag morgen vor allem ausländische Journalisten im Visir haben, denen sie vorwerfen, zu misinformieren und damit Ägypten »ins Chaos zu stürzen«.
In beiden Fällen haben die jeweiligen Führungen, also die Übergangsregierung oder die Muslimbruderschaft wenig Einfluss auf diese Milizen. Jede einzelne dieser losen Gruppierungen kann ihre Mission selbst beschreiben, und sich ihre eigenen Rechtfertigungen für ihre Handlungen zurecht legen. Die grobe Leitschnur bildet jeweils die Propaganda, die durch die beschriebenen Informationsquellen verbreitet wird.
Wie wenig Einfluss beispielsweise die Muslimbruderschaft auf ihre Unterstützer hat, zeigte sich in der Nacht zum Samstag: Obwohl dazu aufgerufen worden war, die Demonstration auf dem Ramses-Platz zu beenden, und stattdessen am nächsten Tag zurück zu kommen, gingen sehr viele nicht nach Hause, sondern lieferten sich die Nacht über Kämpfe mit Sicherheitskräften und Zivilisten der Gegenseite. Später verschanzten sich dann Anhänger der Muslimbruderschaft in der Fatah-Moschee, wo sie bis zur Stunde, umstellt von Sicherheitskräften, ausharren. 700 Menschen sollen dort noch ausharren.
Freitag, 16. August
23:41 Die Muslimbruderschaft hatte am Abend Ihre Anhänger per Twitter und Facebook dazu aufgefordert, nach Hause zu gehen, und die Demonstration für den Tag zu beenden. Die Leute sollten, so die Aufrufe, stattdessen eine Woche lang jeden Tag zu Protesten auf die Straßen gehen.
Doch die Aufforderung scheint wenigstens zum Teil verhallt zu sein. In Stadtzentrum von Kairo sind nach wie vor Schüsse zu hören; Anwohner in der Nähe des Ramses-Platzes, wo sich die Auseinandersetzungen am Freitag hauptsächlich abspielten, berichten, dass die Straßenschlachten auf und um den Platz herum weiter gehen. Ein ausländischer Reporter, der das Geschehen aus einer der Wohnungen am Platz verfolgt, berichtet, dass in den Seitenstraßen auch Zivilisten gegeneinander kämpfen. Auf dem Platz selbst setzen Polizei und Militär weiterhin Tränengas und scharfe Munition ein; offiziell sind am Freitag mindestens 80 Menschen ums Leben gekommen. Tatsächlich dürfte die Zahl aber höher sein. Nun wird auch zunehmend deutlich, dass das eingetreten ist, was sich bereits seit dem Morgen andeutete: Dass sich so etwas wie »Milizen« formieren, die Jagd auf die Gegenseite machen.
19:52 In Ägypten hat um 19:00 Uhr wieder die Ausgangssperre begonnen, und die Regierung hat angekündigt, sie »mit allen Mitteln« durch zu setzen. Eingehalten wird sie aber trotzdem nicht: Die Demonstranten wollen nicht weichen; die Auseinandersetzungen gehen weiter. Über Nacht und am frühen Samstag morgen wird dieser Live-Bericht nur unregelmäßig bestückt. Ab morgen werde ich dann wieder die Ereignisse begleiten. Ich wünsche Ihnen allen eine ruhige, erholsame Nacht.
17:48 Mittlerweile haben Zivilisten Milizen gebildet, und eigene Straßensperren in der Nähe des Ramses-Platzes eingerichtet. Schon zuvor kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und pro-Militär-Jugendlichen, die mit Klappmessern und selbst gebauten Waffen durch die Straßen unterwegs sind. Das Ganze gibt der Situation eine Wende. Sollte das Schule machen, und es die Sicherheitskräfte mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ernst meinen, werden sie es sehr schwer haben, hier die Kontrolle zu behalten.
17:39 Ein schneller Blick ins Ausland: Saudi-Arabiens König Abdullah hat sich in einer seltenen öffentlichen Äußerung hinter den »Kampf des ägyptischen Volkes gegen den Terrorismus« gestellt. Ansonsten ist die internationale Kritik umfassend und massiv: In Indonesien, im Jemen, in der Türkei sind unter anderem Zehntausende auf die Straße gegangen. Deutschland will, so das Bundespresseamt, seine Beziehungen zu Ägypten insgesamt auf den Prüfstand stellen. Schon am Mittwoch war angekündigt worden, Zahlungen des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Höhe von 25 Millionen Euro und ein Kooperationsprojekt auf Eis zu legen. Auch die Niederlande und Dänemark haben HIlfsprogramme auf Eis gelegt.
17:32 Auf der Facebook-Seite des ägyptischen Innenministerium werden Soldaten und Polizisten gerade dazu aufgerufen, nicht auf Demonstranten zu schießen. Ich gehe mal davon aus, dass die Seite von irgend jemandem gehackt worden ist, denn zum einen gehe ich nicht davor aus, dass irgend jemand im Innenministerium davon ausgeht, dass einer bei den Einsatzkräften gerade bei Facebook mitliest. Zum Anderen widerspricht es ganz einfach den tatsöchlichen Einsatzbefehlen.»
17:27 In der Nationalen Heilsfront gibt es Streit. Khaled Dawoud, der Sprecher des Parteienbündnisses, ist zurück getreten. Er protestiere gegen die Unterstützung des Parteienbündnisses für die Militäreinsätze in den vergangenen Tagen. Er könne die Positionen des Bündnisses nicht mehr guten Gewissens vermitteln. Schon seit Längerem denken die linken Parteien über eine Aufkündigung des Bündnisses, und die Gründung einer eigenen gemeinsamen Plattform nach.
17:12 Ich habe gerade noch einmal mit dem Krankenhausmitarbeiter telefoniert. Er ist verzweifelt: Es gebe aktuell nichts, was man für die Verletzten tun könne.
17:05 Die Lage ist zur Zeit extrem unübersichtlich. Sicher ist, dass es Tote gegeben hat, und dass es bisher mindestens einige Dutzend sein dürften. Auf dem Ramses-Platz wird geschossen, über die Lautsprecher einer Moschee wird nach Ärzten gerufen. Dies könnte allerdings erst der Anfang sein. In der Nähe des Tahrir-Platzes einige Kilometer weiter sammeln sich jene Sondereinheiten der Polizei, die schon für die Räumung der Protestlager am Mittwoch verantwortlich waren. Sollten sie den Auftrag erhalten, den Platz zu räumen, muss das Schlimmste befürchtet werden.
16:50 Immer mehr Berichte lassen befürchten, dass der heutige Tag ähnlich blutig ausgehen könnten wie Mittwoch: In einer Moschee sollen 13 Leichen liegen. Auf der Brücke des 6. Oktober sollen Polizisten wahllos in die Menge demonstrierende Menschen geschossen haben. Auch in Alexandria und Fajum gibt es Tote.
16:20 Es mehreren sich die Berichte über den Schusswaffeneinsatz durch Zivilisten. Klar ist bisher nicht, ob es sich dabei nicht eigentlich um Soldaten und Polizisten in Zivil handelt. Am Ramses Platz hat die Polizei mit Tränengas und scharfer Munition auf Mursi Mursi-Anhänger geschossen, nachdem am Rande des Platzes Steine auf eine Polizeiwache gewurfen wurden.
15:20 Die Demonstranten sind sich sehr oft bewusst, dass heute der letzte Tag in ihrem Leben sein könnte. Jugendliche haben ihre Namen mit Filzstift auf die Unterarme geschrieben - auf die Unterarme, damit man weiß wer sie sind, falls ihnen in den Kopf oder die Brust geschossen werden sollte.
15:17 Bei den Opferzahlen muss man auch heute wieder berücksichtigen, dass die Zahlen stark differieren können. Das Gesundheitsministerium meldet nur die Toten, für die in einem Krankenhaus oder einer Leichenhalle ein Totenschein ausgestellt worden ist; viele Nachrichtenagenturen zählen allerdings auch jene Todesopfer mit, für die noch keine Dokumente ausgefertigt worden sind - zum Beispiel, weil sie noch nicht identifiziert werden konnten. Oder weil sie nicht in eine offizielle Einrichtung transportiert worden sind.
15:15 Auf dem Ramses-Platz haben Demonstranten nun damit begonnen, Barikaden aufzubauen. In Alexandria gibt es nun insgesamt 13 bestätigte Todesopfer.
15:00 Maschinengewehrfeuer ist zu hören; außerdem setzen die Sicherheitskräfte Tränengas ein. Die BBC berichtet, Demonstranten hätten eine Polizeistation am Rande des Platzes angegriffen. Die Mitarbeiter eines Krankenhauses in der Nähe sagen, es seien erste Verletzte mit Schusswunden eingeliefert worden.
14:55 Auf dem Ramses-Platz wird nun scharf geschossen.
14:50 Ein kleiner Hinweis: Wer in den kommenden Wochen eine Urlaubsreise nach Ägypten plant, sollte sich umgehend an seinen Reiseveranstalter wenden. So gut wie, wenn nicht gar alle Unternehmen, die Reisen nach Ägypten im Programm haben, bieten ihren Kunden zumindest für alle Reisen, die vor Mitte September beginnen sollen, die Möglichkeit der kostenlosen Umbuchung an. Wer sich bereits im Land aufhält, sollte diesen Aufenthalt kritisch hinterfragen. Auf keinen Fall sollte man Ausflüge in das Landesinnere, und schon gar nicht auf die Sinai-Halbinsel, unternehmen. Die Lage ist extrem unübersichtlich; es kann jederzeit zu Gewalt kommen
14:35 Auf dem Ramses-Platz sind nun Schüsse zu hören; es ist unklar, wer feuert.
14:20 Interessant ist, dass sich unter den Demonstranten auch eine ganze Reihe von Säkularen zu befinden scheinen. Mehrere Medien berichten, dass Menschen sagen, dass sie sich nicht mit den Zielen der Muslimbruderschaft identifizieren, aber Mursi nun einmal der gewählte Präsident des Landes sei.
14:15 Die Lage spitzt sich nun rasant zu. Aus allen Teilen der Stadt und auch aus Alexandria und kleineren Städten werden nun Schüsse und der Einsatz von Tränengas gemeldet. Es hat auch bereits erste Todesopfer gegeben: In Alexandria wurden vier Demonstranten getötet; In Kairo kam ein Angehöriger der Sicherheitskräfte ums Leben.
13:57 Über dem Ramses-Platz schweben nun mehrere Hubschrauber. Zur Erinnerung: Am Mittwoch war aus solchen Helikoptern Tränengas abgefeuert worden, was vielen Menschen das Leben kostete.
13:52 Ich habe gerade mit dem Mitarbeiter eines großen Kairoer Krankenhauses telefoniert. Er sagt, dass man die Situation mit Sorge betrachtet. Die Krankenhäuser der Stadt seien bereits durch die Tausenden von Menschen, die während der Räumungen am Mittwoch verletzt worden sind, komplett überlastet. Die Vorräte an notwendigen Produkten wie Narkose- und Schmerzmitteln aber auch Verbandsmitteln seien in seiner Klinik nahezu aufgebraucht. Sollte es heute eine große Zahl an Verletzten geben, werde das Gesundheitssystem vollends zusammen brechen.
13:45 Auf Twitter sind Berichte von Scharfschützen und vereinzelten Schüssen zu hören. Dafür gibt es momentan keine Bestätigung von den Kollegen vor Ort. Insgesamt verlaufen die Märsche, 28 in Kairo allein, bislang friedlich. Brenzlig wird es dann werden, wenn die Demonstranten auf die Straßensperren treffen, die Polizei und Militär rund um den Ramses-Platz aufgebaut haben.
13:33 Die englischsprachige Ausgabe des Wall Street Journal zitiert Ahmed Ali, Sprecher des Verteidigungsministeriums: «Wenn man es mit Terrorismus zu tun hat, sind die Bedingungen von Bürger- und Menschenrechten nicht anwendbar».
13:28 Die Freitagsgebete sind vorbei. Die Lage ist extrem gespannt. Überall in Kairo haben sich Menschenmengen in Bewegung gesetzt. Insgesamt scheint die Zahl in die Tausende zu gehen. Auch auf dem Ramses-Platz im Zentrum haben sich bereits einige hundert Anhänger der Muslimbruderschaft versammelt. Hier sollen die Demonstrationen enden - wenn sie den Platz erreichen. Militär und Polizei haben den Auftrag das zu verhindern
13:00 Gestern Abend hat die Regierung dem Militär offiziell den Schießbefehl erteilt. Das hat man, wie mir ein Mitarbeiter des Präsidialamtes sagte, gemacht, um deutlich zu machen, dass das Militär am Mittwoch keine scharfe Munition eingesetzt hat, was allerdings wiederum auf die meisten Außenstehenden verwirrend wirkt, weil die Sicherheitskräfte am Mittwoch ganz offensichtlich scharfe Munition eingesetzt haben.
Es ist so, dass die Übergangsregierung die Wahrheit sagt, und trotzdem irgendwie lügt: Tatsächlich scheint das Militär selbst am Mittwoch nicht geschossen zu haben. Die Soldaten wurden, übereinstimmenden Berichten zufolge, für die Absperrungen und die Einkesselung der Demonstranten eingesetzt. Es waren paramilitärische Sondereinheiten der Polizei, die während der Räumung von der Schusswaffe Gebrauch machten. Diese Sondereinheiten stammen noch aus der Ära Hosni Mubaraks und waren damals ein integraler Bestandteil des Machtapparates. Ein ausländischer Experte für innere Sicherheit, der in der Regel sehr gut informiert ist, hat mir gesagt, dass das Personal dieser Einheiten noch weitgehend das selbe ist, wie vor der Revolution Anfang 2011 und für seine extreme Härte bekannt ist. Ein Hauptfeindbild, auf das die Angehörigen dieser Einheite eingeschworen werden, ist die Muslimbruderschaft, die über viele Jahre mit diesem Mittel als politische Kraft unterdrückt wurde.
Manche vermuten, dass der Schießbefehl für das Militär auch bedeuten könnte, dass nun das Militär die Federführung übernimmt, und damit eine Mäßigung bei der Anwendung tödlicher Gewalt einher gehen könnte. Ob das so ist, werden wir wohl bald erfahren.
12:38 Hallo und Guten Tag. Hiermit melde ich mich mit dem Live-Bericht über die Ereignisse in Ägypten zurück. Die Lage ist wirklich gespannt. Sie ist sehr ernst. Demnächst werden die Freitagsgebete beginnen; im Anschluss daran sollen von den Moscheen aus Protestmärsche der Muslimbruderschaft starten. Polizei und Armee haben angekündigt, dies zu verhindern; in Kairo sind rund um Moscheen Straßensperren errichtet worden; außerdem sind Panzer aufgefahren. Am Abend zuvor hatte die Übergangsregierung die Armee öffentlichkeitswirksam dazu authorisiert, scharfe Munition einzusetzen, und vor dem Hintergrund der Rechtfertigungen, die wir gestern im Laufe des Tages aus den Reihen der politischen Führung zu hören bekommen haben, muss man mit dem Schlimmsten rechnen.
Was ich persönlich allerdings am Bedenklichsten finde ist, dass mittlerweile Bürgerinitiativen die Menschen dazu aufrufen, «ihr Stadtviertel und ihren Besitz zu verteidigen», wie es in mehreren Flugblättern hieß. Wir hatten schon während und nach den Räumungen am Mittwoch vereinzelt erlebt, wie Zivilisten vereinzelt Jagd auf Menschen machten, die sie im Verdacht hatten, Muslimbrüder zu sein, und vor dem Hintergrund der sehr einseitigen, und, vorsichtig gesagt, sehr polarisierenden Berichterstattung der ägyptischen Medien, muss man befürchten, dass das Schule macht.
11:59 Das Auswärtige Amt rät von Reisen nach ganz Ägypten ab. Das gab Ministeriumssprecher Andreas Peschke am Freitag in Berlin bekannt. Neu ist, dass nun auch von Reisen in die Urlaubsgebiete am Roten Meer abgeraten wird. Eine Reisewarnung gibt es weiterhin nur für den Nordsinai und das ägyptische Grenzgebiet zu Israel. Vor Reisen nach Kairo, nach Oberägypten und in das Nildelta wird «dringend abgeraten».
Donnerstag, 15. August
17:41 In gut einer Stunde wird hier in Kairo erneut eine Ausgangssperre beginnen. Die den Tag über ohnehin schon wenig bevölkerten Straßen leeren sich nun vollends. Das Innenministerium hat angekündigt, dieses Mal die Ausgangssperre besser zu überwachen; jeder der sich draußen aufhalte, müsse mit seiner Festnahme rechnen. Doch die Muslimbruderschaft hat auch heute wieder ihre Anhänger zu Protesten aufgerufen.
Der Live-Bericht macht nun eine Pause; ich melde mich morgen früh mit den Ereignissen der Nacht zurück.
17:35 Als erste politische Gruppierung haben sich nun die Revolutionären Sozialisten Ägyptens geäußert. In einer Stellungnahme erklärt die trotskyistische Partei, die nicht im Parlament ist, man habe den Umsturz Anfang Juli mitgetragen, verurteile die Politik des «Kriminellen» Mursi, und auch die Muslimbruderschaft lehne man ab. Aber eine Militärdiktatur sei nicht die Antwort; Generalstabschef Abdelfattah al Sisi müsse sich aus der Politik zurück ziehen. Er habe einen Kurs eingeschlagen, der den Zielen der Revolution, «Freiheit, Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit» feindlich gegenüberstehe. Dies sei der Kontext, in dem das «Massaker» am Mittwoch gesehen werden müsse: Damit werde das Ziel verfolgt, den Willen des ägyptischen Volkes zu brechen.
17:24 Nun hat sich US-Präsident Barack Obama auch selbst zu Ägypten geäußert. Mittlerweile ist man in Washington zwar über reine Mahnungen und Warnungen hinaus, und hat auch mal was Konkretes angeordnet, nämlich die Absage einer gemeinsamen Übung.
Die allerdings wiederum rein symbolischen Charakter haben dürfte: Allgemein wird angemerkt, dass die USA wohl kaum Soldaten zu einer Übung in ein Land schicken würden, dass am Rande des Bürgerkrieges steht. Die Signalwirkung, die amerikanische Soldaten in Ägypten auf die vielen Menschen in der muslimischen Welt hätten, die das Vorgehen der ägyptischen Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten kritisch auffassen, dürfte kaum zu unterschätzen sein. So hat man also etwas, an dem man ohnehin kaum vorbei gekommen wäre, in einen «Warnschuss» umgedeutet.
Interessant fand ich persönlich allerdings auch die Äußerung Obamas, dass der Weg zu einer friedlichen Demokratie «nicht nur Monate, oder Jahre, sondern ein ganzes Leben» in Anspruch nehmen könne. Das könnte man wohl so auffassen, dass die Obama-Administration vorhat, sich auch dann zurück zu halten, falls das Land nicht, wie ursprünglich nach dem Umsturz angekündigt, in einigen Monaten mit Wahlen zur Demokratie zurück kehrt – oder falls Abdelfattah al Sisi sich in einer solchen Wahl neben den Titeln «Generalstabschef» und «Verteidigungsminister» auch den Titel «demokratisch gewählter Präsident» verleihen lassen sollte.
16:25 Als Vize-Präsident Mohammad El-Baradei gestern Abend zurück trat, erklärte er zum Abschied noch in einem Brief, es habe Alternativen zur Räumung gegeben; kurze Zeit später konterte dann Übergangsregierungschef Hasem al Beblawi in einer Fernsehansprache, Alternativen habe es keine gegeben.
Tatsächlich scheint es so gewesen zu sein, dass ausländische Diplomaten noch bis kurz vor dem Beginn des Einsatzes versucht haben, der Übergangsregierung einen Plan schmackhaft zu machen, der die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit bis zu einer vorgezogenen Neuwahl möglich gemacht hätte. Was genau in dem Plan steht, ist leider unbekannt, aber sowohl Vertreter der Europäischen Union als auch Mitarbeiter des amerikanischen State Department und Mitglieder der Führungsebene der Muslimbruderschaft sagen, der Plan wäre für die Muslimbrüder akzeptabel gewesen.
Nur: Auf Seiten der Übergangsregierung nahm man diese Zustimmung nicht ernst, vertrat die Ansicht, dass man der Muslimbruderschaft nicht vertrauen kann, was dann dazu führte, dass der Vorschlag vom Kabinett mehrheitlich abgelehnt wurde, wobei el Baradei dafür gestimmt habe.
Vertreter der EU sagen, die Entscheidung der Regierung sei den ausländischen Vermittlern erst mitgeteilt worden, als die Würfel de facto gefallen, also Militär und Polizei Stellung bezogen hatten. US-Außenminister John Kerry und Verteidigungsminister Chuck Hagel hätten dann noch in letzter Minute versucht, den Einsatzbefehl abzuwenden, indem sie versuchten, Verteidigungsminister und Generalstabschef Abdelfattah al Sisi und Übergangspräsident Adly Mansur ans Telefon zu bekommen.
14:57 Die Lage beginnt nun zu eskalieren: Mehrere hundert Demonstranten haben das Governorat im Kairoer Stadtteil Gizeh gestürmt; das ist eine Art Regierungspräsidium. Über dem Gebäude steigt schwarzer Rauch auf; über Opfer und die Reaktion der Sicherheitskräfte ist noch nichts bekannt.
14:12 Neben den vielen Meldungen über steigende Opferzahlen und Stellungnahmen ausländischer Regierungen und inländischer Politiker, mehren sich hier auch die Berichte über Übergriffe von Zivilisten auf Zivilisten. Besonders stechen dabei die Meldungen von Angriffen auf christliche Einrichtungen im Lande hervor.
Nach Angaben der koptischen Kirche wurden seit gestern nachmittag sieben koptische Kirchen mit Brandsätzen beworfen. Ein Sprecher der katholischen Kirche, die mit der koptischen Kirche assoziert ist, berichtet zudem, es seien 17 Einrichtungen seiner Glaubensgemeinschaft angegriffen worden. Mindestens drei koptische Kirchen brannten komplett aus. Über die Zahl möglicher Opfer ist ebenso wenig Genaues bekannt, wie über die Täter. Das Innenministerium teilte soeben mit, dass insgesamt 84 Personen von der Militärstaatsanwaltschaft angeklagt worden seien.
Zum besseren Verständnis: Christen haben einen Anteil von rund zehn Prozent an der Gesamtbevölkerung. Die Beziehung dieser Minderheit zur muslimischen Bevölkerungsmehrheit ist schon seit Langem problematisch. Immer wieder kam es im Laufe der Jahrzehnte zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen muslimischen und koptischen Jugendlichen. Die Ursachen dafür sind komplex. Im Kern betrachten vor allem orthodoxe Muslime die Christen als Eindringlinge, die Ägypten zu einem christlichen Land machen wollen; während von der koptischen Seite den Muslimen vorgeworfen wird, Christen zur Konversion zu zwingen und die Kirche aus Ägypten vertreiben zu wollen. Beobachter berichten, die Agitation auf beiden Seiten sei allgegenwärtig; Bestrebungen zu einem Ausgleich würden weitestgehend abgeblockt, und das auch von Vertretern der katholischen Kirche, die sich in Ägypten als «Bollwerk gegen den Islam» präsentiere – eine Begrifflichkeit, die auch ein Sprecher der katholischen Kirche mir gegenüber gerade verwendet hat: Er bezeichnete die Absetzung Mursis als notwendig, weil sonst Ägypten zu einem zweiten Iran werden würde. Dabei verwies er auf die Angriffe auf christliche Einrichtungen.
Auf der muslimischen Seite sind es vor allem religiöse Führer der Salafisten, die zur Gewalt gegen Christen aufstacheln. Außerhalb der Protestlager haben sie ihre eigenen Erklärungen für den Umsturz Anfang Juli und die Räumung der Protestlager gestern gefunden: Die Tamarud-Bewegung sei von «Kreuzrittern» unterwandert, die damit einen Regierungswechsel herbei führen, und das Militär dazu bewegen wollten, Muslime zu töten, um Ägypten zu einem christlichen Land zu machen, lautet beispielsweise die Argumentationslinie auf mehreren Webseiten.
13:00 Noch einmal zu den Todeszahlen: Das Gesundheitsministerium spricht nun von 525 Toten. Ein Kollege von Reuters berichtet allerdings, in einer Moschee würden noch einmal mindestens 220 Getötete aufbewahrt. Viele dieser Opfer werden allerdings nun ohne den Umweg über eine Leichenhalle beerdigt.
Wichtig ist das vor allem, um einschätzen zu können, wessen Darstellung der Ereignisse wenigstens einigermaßen korrekt ist. So herrscht unter ausländischen Reportern weitgehend Einigkeit, dass der weit überwiegende Teil der Demonstranten in Kairo nicht bewaffnet war. Dafür spricht auch, dass sich nur sehr wenige Polizisten und Soldaten unter den Opfern befinden. Auffällig ist auch, dass mehrere Journalisten, darunter auch der gestern getöte Sky News-Kameramann Mick Deane, gezielt vom Militär beschossen wurden, obwohl sie eindeutig als Journalisten erkennbar gewesen sind.
Die Übergangsregierung betont allerdings stets, das Vorgehen der Sicherheitskräfte habe im Einklang «mit internationalen Standards» gestanden, wie Übergangsregierungschef Hasem al Beblawi gestern abend in einer Fernsehansprache erklärte. Er dankte Polizei und Militär für die Zurückhaltung. Es habe keine Alternative zur Räumung der Protestlager gegeben: In einem «solchen Chaos» sei «wirtschaftlicher Fortschritt unmöglich», sagte er. Als Beweis für die Behauptung, die Demonstranten seien bewaffnet gewesen, sendete das Staatsfernsehen Bilder von Molotow-Cocktails, die in den Protestlagern beschlagnahmt worden seien. Dabei fällt aber ebenfalls auf, dass es keine bestätigten Berichte über den Einsatz von Brandsätzen gegen Einsatzkräfte gibt.
Und der ägyptische Botschafter in Großbritannien sagte der BBC am Morgen: «Erzählen Sie mir nicht, dass es ein Land gibt, in dem Demonstranten der Polizei bewaffneten Widerstand leisten dürfen. Man muss Recht und Gesetz aufrecht erhalten.» 48 Tage lang hätten die Demonstranten ein Gebiet besetzt, in dem viele Menschen wohnen: «Innerhalb der vergangenen beiden Wochen wurden die Leute immer wieder gewarnt, dass sie die Gegend verlassen müssen.»
12:00 Guten Tag. Nach den Ereignissen von gestern ist die Lage in Ägypten gespannt. Unsicher. Aber mit Sicherheit explosiv. Was in diesen Tagen hier geschieht, kann Auswirkungen auf die gesamte Region haben, möglicherweise Kettenreaktionen in Gang bringen.
So habe ich mittlerweile aus Tel Aviv gehört, dass im israelischen Verteidigungsministerium Pläne für den, aus Sicht des jüdischen Staates, Ernstfall entworfen werden – für jene Situation also, in der das ägyptische Militär die Kontrolle über die Sinai-Halbinsel verliert, im Nachbarland möglicherweise bürgerkriegsähnliche Zustände ausbrechen. Was hier im Raume steht, kann ich noch nicht genau sagen, aber vor dem Hintergrund, dass sich vom nördlichen Rand des Sinai ein Großteil des dicht besiedelten Zentral-Israel in Reichweite befindet, kann man davon ausgehen, dass zur Zeit die Pläne für einen Militäreinsatz entwickelt werden.
In Ägypten selbst ist der heutige Tag ein Tag der Trauer für die Gegner des Umsturzes. Leider hat sich über Nacht heraus kristallisiert, dass wir mit der Zahl von 311 Todesopfern, die wir gestern Nachmittag gemeldet hatten, nicht daneben gelegen haben. Tatsächlich geht auch das Gesundheitsministerium mittlerweile von über 400 Toten aus.
Und die Zahl könnte noch weiter steigen. Denn die Verzögerung kommt dadurch zu Stande, dass auch jetzt noch nicht alle Leichen abtransportiert sind. In den Stunden nach dem Militäreinsatz mussten die Krankenwagen ausschließlich dafür eingesetzt werden, die vielen Hundert Verletzten abzutransportieren. Dann kam die Ausgangssperre dazwischen. Mehrere Ärzte haben mir heute morgen erzählt, dass auch Krankenwagen nur in Notfällen unterwegs sein durften. Und der Abtransport von Leichen zählt nach der Lesart des Militärs nicht dazu – obwohl in der Sommerhitze die Gesundheitsgefahr von Stunde zu Stunde steigt.
Dabei hat die Ausgangssperre ohnehin ihr Ziel weitgehend verfehlt: Zwar herrschte im Stadtzentrum von Kairo gespenstische Ruhe, und zwar liegt auch heute das öffentliche Leben weitgehend brach. Doch an vielen Orten fanden sich Angehörige der Muslimbruderschaft zusammen, um weiter zu demonstrieren. In mehreren Städten gab es auch über Nacht Ausschreitungen.
Mittwoch, 14. August
19:32 In Kairo und mehreren anderen ägyptischen Großstädten hat nun offiziell die Ausgangssperre begonnen. Auf den Straßen in der Innenstadt herrscht nun Stille, wobei unklar ist, was passiert, wenn man die Ausgangssperre verletzt – Konsequenzen wurden bisher nicht klar kommuniziert. In mehreren Städten gibt es allerdings weiterhin Ausschreitungen; in Kairo hat es das Militär bis jetzt nicht geschafft, das Protestlager auf dem Rabaa al Adawijah-Platz zu räumen.
Zwar berichtet ägyptische Fernsehsender, mehrere hundert Demonstranten hätten das Angebot des Militärs auf sicheres Geleit angenommen, und sich auf den Weg nach Hause gemacht. Doch mehrere Tausend sind noch vor Ort, und Sprecher der Muslimbruderschaft betonten, man werde nicht weichen. Allerdings habe man sämtliche Führungskader abgezogen, um die Demonstranten nicht noch weiter zu gefährden.
Es war ein langer, ein sehr intensiver Tag. Wir legen nun hier eine Pause ein, um Luft zu holen, um weitere Einblicke und Ausblicke zu sammeln und melden uns morgen mit hoffentlich besseren Nachrichten zurück.
19:00 So, wie versprochen nun einige Worte zur amerikanischen Haltung. Wie erläutert waren die Stellungnahmen des Weißen Hauses ja eher ausweichend, und das scheint vor allem geopolitische Ursachen zu haben.
Im Kern des Ganzen steht das C-Wort. Man drückt sich, man windet sich, um nur nicht «Coup» sagen zu müssen, denn in dem Moment, in dem man das Wörtchen auch nur haucht, wie sachte auch immer, wird das massive Auswirkungen haben: Amerikanisches Recht verbietet Finanz- und Militärhilfen an Staaten, in denen eine demokratisch gewählte Regierung weg geputscht wurde, und die Vermeidung des C-Wortes ist ein Weg für das Weiße Haus, diese Beschränkungen zu umgehen.
Denn aus Sicht der Obama-Administration ist die Fortsetzung der Militärhilfen im «Interesse der Vereinigten Staaten», wie ja Vize-Sprecher Josh Earnest immer wieder betonte. Warum, das zeigt ein Blick auf die politische Landkarte der Region.
Allem voran ist da der Sinai. Dort spitzt sich die Sicherheitslage zu; das Gebiet an der israelischen Grenze ist zum Sammelbecken für eine ganze Reihe von militanten Gruppen geworden. Aus amerikanischer Sicht würde eine Einstellung der Militärhilfen die Möglichkeiten der ägyptischen Armee beschränken, auf dem Sinai für Ordnung zu sorgen, was wiederum Israel nicht recht sein kann, wo man gerade erst einer massiven Aufstockung der ägyptischen Truppenpräsenz auf der Halbinsel zugestimmt hat.
Außerdem geht man in Washington davon aus, dass ein starkes ägyptisches Militär eher den strategisch und wirtschaftlich wichtigen Suezkanal offen halten wird.
Allerdings: Es mehren sich auch die kritischen Stimmen, die anmerken, dass das Weiße Haus möglicherweise damit den amerikanischen Interessen eher schadet, als nutzt. Denn wie berichtet, steht der Rest der arabischen Welt den Ereignissen in Ägypten ausgesprochen kritisch gegenüber – und damit auch die amerikanische Haltung in der Sache.
Im Laufe des Tages häufte sich die Kritik daran, dass sich Washington nicht klar von der de facto Militärregierung in Kairo distanziert. Die USA müssen also nun mit einem weiteren Imageverlust in der Region rechnen.
18:40 Es kam schneller als erwartet: Vizepräsident Mohammad el Baradei hat seinen Rücktritt eingereicht. In einem Brief an Übergangspräsident Adly Mansur erklärte er, er werde keine Verantwortung für Entscheidungen übernehmen, mit denen er nicht einverstanden sei. Es habe Alternativen für eine friedliche Lösung gegeben.
Dem Vernehmen nach denkt auch Mansur darüber nach Konsequenzen zu ziehen. Mittlerweile reden wenigstens die Mitarbeiter im Umfeld der Regierung wieder, und es wird in den Gesprächen einigermaßen deutlich, dass man kaum noch Hoffnung auf eine baldige Rückkehr zur Demokratie hat. Die Einflussmöglichkeiten der Regierungsmitglieder seien begrenzt; nichts passiere, wenn al Sisi dagegen sei.
Auffällig ist übrigens auch, dass die Tamarod-Bewegung, die bisher mit Verve die Ansicht vertrat, das Ganze sei eine Revolution mit Unterstützung des Militärs gewesen, heute nahezu nicht präsent ist.
18:14 Ägyptens Vizepräsident El-Baradei tritt zurück. «Ich habe meinen Rücktritt eingereicht, weil ich nicht die Verantwortung für Entscheidungen, mit denen ich nicht einverstanden bin, tragen kann», sagte er nach einem Bericht des Nachrichtensenders Al-Arabija.
17:41 Auf die Frage, ob Ägyptens Regierung nun in irgendeiner Weise zur Rechenschaft gezogen werden wird, antwortete Eearnest (der stellvertretende Obama-Sprecher): «Sie haben Versprechen abgegeben. Als die Übergangsregierung die Kontrolle über das Land übernommen hat, hat sie versprochen, dass dies nur ein vorüber gehender Schritt ist. Das ist ein Versprechen, dass sie abgegeben haben, und dass wir sie einzuhalten ermuntern.»
17:33 Während Earnest sehr, sehr wortreich die Frage nach der Bustour und was die Republikaner dazu sagen, beantwortet, wende ich mich wieder Ägypten zu: Mittlerweile wurde nicht nur der Ausnahmezustand verhängt, sondern auch eine nächtliche Ausgangssperre, die um 19 Uhr Ortszeit beginnen wird. Offiziell soll damit die öffentliche Ordnung wieder hergestellt werden.
Tatsächlich ist es aber so, dass das Militär nun absolut freie Hand hat: Unter anderem sind nun das Versammlungsrecht sowie das Recht auf freie Meinungsäußerung eingeschränkt. Das Militär kann nach eigenem Ermessen jeden fest nehmen, der sich nach 19 Uhr draußen aufhält.
17:28 Das Statement hat begonnen: Die USA verurteilen die Gewalt «auf das Schärfste». Eine Antwort auf die Frage, ob Washington nun seine Position zum Umsturz überdenken und das Ganze als Coup d›Ètat einstufen wird, gibt er aber nicht. Man befinde sich in einem «andauernden Prozess», die Militärhilfen, insgesamt 1,3 Milliarden US-Dollar im Jahr, zu überprüfen. Verbindliche Aussagen: Fehlanzeige.
Es sei «im besten Interesse» der Vereinigten Staaten, sich in der Frage, ob das nun ein Coup ist, oder nicht, nicht fest zu legen – mittlerweile wurde die Frage danach acht Mal gestellt, und acht Mal lautete die Antwort: Man prüfe, man rede, man verurteile, man lege sich nicht fest.
Dann stellt plötzlich jemand eine Frage nach irgendeiner Bustour durch Pennsylvania, die Obama in der kommenden Woche unternehmen will.
17:08 Bald werden wir endlich auch eine Reaktion aus den Vereinigten Staaten haben. Josh Earnest, der stellvertretende Sprecher des Weißen Hauses, gibt gerade in Martha‹s Vineyard, dem Urlaubsort von US-Präsident Barack Obama, ein Statement zu den Ereignissen in Ägypten ab.
17:00 Ich musste hier eine kleine Pause einlegen. Den Grund dafür hat Kollege Fabian Köhler bereits genannt: Bei dem Militäreinsatz heute morgen wurde Mick Deane, ein sehr erfahrener Kollege vom britischen Nachrichtensender Sky News, getötet. Zudem wurde die Photo-Journalistin Asmaa Waguih mit einer Schußwunde am Bein ins Krankenhaus eingeliefert. Mehrere andere Journalisten berichteten, sie selbst seien gezielt von Scharfschützen ins Visir genommen worden.
Bei Deane und Waguih handelt es sich um erfahrene Journalisten, die durch ihre Arbeit vor Ort dazu beitragen, dass das Schicksal der Menschen hier international wahr genommen wird. Ihre Bilder beweisen, was Regierung und Militär abstreiten: Dass mit brutaler Härte, und ohne Berücksichtigung dessen, was die Anwesenden tun, vorgegangen wird.
In Momenten wie diesen muss allerdings auch für einen Augenblick in Erinnerung gerufen werden, unter welchen Bedingungen Bildjournalisten arbeiten: Während wir Schreiber uns zurückziehen können, wenn es brenzlig wird, müssen die Fotogs, wie sie auch genannt werden, zwangsläufig vor Ort bleiben. Und während wir Schreiber Texte immer irgendwie los werden, müssen viele Bildjournalisten tagtäglich darum kämpfen, ihre Bilder zu verkaufen. Was wiederum den Zwang erhöht, noch dramatischere Bilder, von noch näher dran, liefern zu müssen. Sie müssen dann auch noch mit jenen Schreibern konkurrieren, die nebenbei noch Bild und Video anbieten. Denn im Zeitalter des Smartphones kann jeder ein Fotograf sein. Aber nicht jeder Fotograf ist auch ein Schreiber.
16:10 Die ägyptische Putschregierung hat mit sofortiger Wirkung einen einmonatigen Ausnahmezustand über das Land verhängt.
15:25 Währnend die Muslimbrüder mittlerweile von 2000 toten Demonstranten spreche, melden Agenturen den ersten getöteten Journalisten: Mick Deane, ein Kameramann des britischen Senders Sky News, ist in Kairo erschossen worden.
14:52 Es ist zur Zeit unmöglich, eine einigermaßen akurate Opferzahl zu benennen. Die britische Zeitung Guardian benennt insgesamt 311 Opfer; andere Medien nennen andere, geringere Zahlen. Die Schwierigkeit ist, dass die Zahlen der Konfliktparteien weit auseinander streben, und sich die Auseinandersetzungen mittlerweile nicht mehr allein auf Kairo beschränken.
So gibt es, unter anderem, auch in Alexandria und Port Said Straßenschlachten, die ebenfalls Opfer gefordert haben, und man muss stets berücksichtigen, dass die Behörden auf die hohen Zahl von Getöteten nicht eingestellt sind: Die Kapazitäten der Leichenschauhäuser sind außerhalb von Kairo noch begrenzter als in Kairo selbst, und das Personal von Krankenhäusern und Lazaretten ist mit der massiven Zahl an Verletzten komplett überlastet.
Sicher ist, dass sehr viele Menschen heute ihr Leben verloren haben, und noch sehr viel mehr sehr schwer verletzt worden sind.
14:30 Bei dem Ganzen fällt zur Stunde eines ganz besonders auf: Das Schweigen von Mohammad el Baradei, Friedensnobelpreisträger und Vizepräsident der Übergangsregierung. Er äußert sich nicht. Seine Sprecher äußern sich nicht.
Ich persönlich täte mich nicht sehr wundern, wenn wir im Laufe der kommenden Tage auch personelle Veränderungen innerhalb der Regierung sehen werden. Denn der Dissenz liegt bereits in der Luft, seit Übergangspräsident Adly Mansur vor einigen Wochen auf Betreiben von Verteidigungsminister, Generalstabschef und Vizepremierminister Abdelfatah al Sisi, Regierungschef Hasem al Beblawi per Dekret die Möglichkeit eröffnete, dem Militär Festnahmen ohne Haftbefehl zu erlauben, was al Beblawi dann auch umgehend tat.
Mehrmals hatte el Baradei alle Seiten zum Kompromiss gemahnt, und deutlich gemacht, dass er gegen einen Militäreinsatz gegen die Protestlager der Muslimbrüder ist, was ihm einige öffentliche Kritik eintrug. So bezeichnete ihn ein Kommentator der staatlichen Zeitung Al Akhbar als «Gefahr für den Staat und das Volk», während er selbst in einem Fernsehinterview konterte: «Jene, die die Muslimbruderschaft zerstören wollen, werfen mir vor, weich zu sein. Ich glaube nicht, dass meine Sorge um den Verlust von Menschenleben mich zu einem weichen Mann macht.»
Dass el Baradei die Absetzung Mursis untersützte, lag vor allem daran, dass er der Ansicht war, dass die Muslimbrüder der Wirtschaft schaden und das Land hin zum islamischen Recht steuern. Immer wieder erklärte er nach seinem Eintritt in die Regierung, Ägypten müsse bald zur Demokratie zurück kehren. Doch während er das sagte, wurde im Laufe der Zeit deutlich, dass das Militär, und vor allem al Sisi, andere Ziele verfolgt. Dieser international respektierte Mann verschaffte dem Militär die Legitimität, die es brauchte, um seine eigene Machtposition auszubauen.
Nun steht für el Baradei, den Friedensnobelpreisträger sein Ruf auf dem Spiel: Im Ausland sind bereits die ersten Forderungen aufgetaucht, ihm dem Friedensnobelpreis abzuerkennen – wobei ich mir nicht sicher bin, ob das überhaupt möglich ist. Aber es ist zumindest ein Zeichen dafür, dass el Baradei sich irgendwie positionieren muss.
13:55 Wie wir gerade erfahren, hat ein Journalisten-Team, an dem unter anderem Reporter des britischen «The Guardian» beteiligt sind, erschreckende Zahlen zu der Anzahl der Toten in Ägypten zusammengetragen: So habe es seit heute Morgen landesweit 311 Tote und 6178 Verletzte gegeben.
13:50 Zwischendrin ein paar Worte zu den Todeszahlen. Wie immer in solchen Situationen gehen die Angaben weit auseinander. Das Gesundheitsministerium spricht von sieben Toten; die Muslimbruderschaft geht von bis zu 250 Todesopfern aus. Große ausländische Medien sind deshalb dazu übergangen, die Opfer in den Leichenschauhäusern durchzuzählen. Auch das gibt zwar nur einen rudimentären Überblick, aber es lässt auch eine einigermaßen sichere Aussage darüber zu, wie bei diesem Einsatz tatsächlich vorgegangen wurde.
So deuten die Verletzungen der Opfer darauf hin, dass die Menschenmenge tatsächlich aus Hubschraubern mit Tränengas beschossen worden sind – mit oft tödlichen Folgen. Denn: Zwar ist Tränengas in sich selbst nicht tödlich; aber die Kanister und Patronen, durch die es frei gesetzt wird sind es. Jeder, der solche Patronen aus Dutzenden Metern Höhe auf eine Menge aus Tausenden Menschen abfeuert, muss davon ausgehen, dass diese Geschosse irgend jemanden mit massiver Wucht treffen werden.
Hergestellt wird das Tränengas übrigens mit ziemlicher Sicherheit im Ausland, wobei mir bemerkenswert erscheint, dass die betreffenden Regierungen die Exportgenehmigungen erteilt haben, obwohl auf Grund von Erfahrungen in der Vergangenheit einigermaßen klar sein dürfte, dass es in der Region auf eine Art und Weise eingesetzt wird, die aus dem Produkt eine tödliche Waffe macht. Das war bei den Militäreinsätzen in Ägypten Anfang 2011 so, und es war später in Bahrain so.
13:30 Uhr: In Kairo hat heute morgen die Räumung der Protestlager der Muslimsbruderschaft begonnen, wobei «Räumung» in diesem Zusammenhang eher als Euphemismus gewertet werden muss. Polizei und Militär hatten bereits in der Nacht damit begonnen, das Gebiet, in dem sich Zehntausende Demonstranten aufhalten, weiträumig abzuriegeln. Kurz nach Sonnenaufgang begann das Militär dann damit, mit Tränengas und scharfer Munition auf die Menschenmenge zu feuern. Zur Stunde dauert der Einsatz an; die Lage ist sehr unübersichtlich.
Ich werde versuchen, im Laufe der kommenden Stunden einen Überblick über die Ereignisse, aber auch Einblicke in ihre Bedeutung zu geben. Denn: Das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die weit überwiegend friedlichen Demonstranten hat das Potential, auch über die Grenzen Ägyptens hinaus zu wirken. Vor allem auf der arabischen Halbinsel, in Saudi-Arabien und den Emiraten, sind die Auswirkungen zur Stunde bereits deutlich zu spüren. Dort hatten sich die Regierungen hinter das neue de facto Militärregime in Ägypten gestellt, während sich die Öffentlichkeiten weitgehend hinter den Demonstranten für die Wiedereinsetzung von Mohammad Mursi positioniert haben.
Die oft sehr drastischen Bilder, die in diesen Stunden über Twitter, aber auch die arabischen Nachrichtensender den Weg an die Öffentlichkeit finden, könnten die Stimmung auch in diesen Ländern kippen lassen. Kollegen in Dubai und anderen Hauptstädten der arabischen Halbinsel berichten bereits von ersten Demonstrationen.
Aber über alledem steht die große Frage: Was wird mit Ägypten passieren? Ein Punkt, der immer wieder untergeht, ist der, dass die Unterstützer der Absetzung Mursis zwar größere Demonstrationen auf die Beine stellen – aber sie stellen keinesfalls die Mehrheit in der Bevölkerung. Außerhalb Kairos, aufwärts des Nil, sind die Menschen überwiegend konservativ, religiös, mehr oder weniger offen mit den konservativen Kräften im Land sympathisierend. Und auch hier ist es am Brodeln.
Um zu verhindern, dass Ägypter aus der Peripherie zur Unterstützung der Demonstranten anreisen, wurde mittlerweile der Zugverkehr weit gehend eingestellt; die Ausfallstraßen sind entweder gesperrt, oder werden streng überwacht.
Und die Übergangsregierung? Sie schweigt, jedenfalls offiziell. Der Innenminister, Mohammad Ibrahim, hatte am Morgen noch erklärt, jeder Demonstrant, der gehen wolle, könne natürlich jederzeit gehen. Ich werde jetzt, erneut versuchen, jemanden ans Telefon zu bekommen.
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