Klagt! Legt Berufung ein!

In letzter Zeit wurden immer mehr Verfahren gegen Demonstranten eingestellt - wenn Berufung eingelegt wurde

  • Michael Ramminger
  • Lesedauer: 3 Min.
Michael Ramminger, seit 30 Jahren Theologe und Internationalist. Hat etwa genauso lange schon was gegen Zäune und Grenzen; gehört zu dem, was man früher mal undogmatische Linke nannte. Obwohl Glaubenswahrheiten nicht immer schlecht sind. Besonders heute.
Michael Ramminger, seit 30 Jahren Theologe und Internationalist. Hat etwa genauso lange schon was gegen Zäune und Grenzen; gehört zu dem, was man früher mal undogmatische Linke nannte. Obwohl Glaubenswahrheiten nicht immer schlecht sind. Besonders heute.

Am 14. März 2009 fand in Münster ein sogenannter Lebensschützer-Marsch fundamentalistischer Christ_innen und Abtreibungsgegner_innen statt. Rund 160 kamen zu einer Demo in der Innenstadt. Gleichzeitig versammelten sich ca. 120 Menschen, die mit diesem Aufzug nicht einverstanden waren. Nach den üblichen Auseinandersetzungen mit der Polizei wurden über 100 von ihnen, darunter auch eine Reihe Schüler_innen, von der Polizei gekesselt, ihre Personalien aufgenommen und knapp drei Stunden bis zur Beendigung des sogenannte Lebensschützermarsches festgehalten. Soweit, so normal.

Was sich dann allerdings in den nächsten vier Jahren abspielte, war nicht mehr ganz so normal. Ein paar Monate später flatterten den ersten Betroffenen Anhörungsbögen zu Ermittlungen wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz gemäß § 21 ins Haus. Darin heißt es: »Wer in der Absicht, nicht verbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.« (§ 21 VersG). Die Unverfrorenheit dieses Vorwurfs war wohl auch einigen Rechtsschützern nicht ganz geheuer, so dass es bei ein paar Jugendlichen zu Einstellungsangeboten gegen Geldauflagen oder auch zur bedingungslosen Einstellung kam. Aber erst jetzt, nach vier Jahren, scheint ein Durchbruch geschafft: Wurde zunächst 2012 eine Verurteilung durch das Landgericht Münster vom Oberlandesgericht Hamm zurückgewiesen, gab es jetzt sowohl erste Freisprüche in Berufungsverfahren vor dem Landgericht als auch bei noch ausstehenden Verfahren vor dem Amtsgericht, die nun selbst von der Staatsanwaltschaft gefordert wurden. Offensichtlich hat sich die verfolgungswütige Staatsanwaltschaft eines besseren belehren lassen und Selbsteinsicht in die Abstrusität ihrer Vorwürfe gehabt.

Doch daneben gab es dennoch eine Reihe von Verurteilungen, gegen die keine Berufung eingelegt wurde.
Das ist bedauerlich, wie die derzeitige Entwicklung mit immer mehr letztinstanzlichen Freisprüchen zeigt. Das Problem an der Sache: Viele Beteiligte waren sich wohl kaum klar über die persönlichen und politischen Konsequenzen ihrer Aktion. Für viele war es die erste Begegnung mit polizeilicher und staatlicher Repression, der sie so nicht gewachsen waren. Und hätte es nicht die Schwarz-Rote Hilfe Münster gegeben, wären wohl viele auch nicht unbeschadet aus dieser politischen Auseinandersetzung herausgekommen. In beharrlicher Kontinuität hat die Rechtshilfe- und Antirepressionsgruppe versucht, die Leute wenigstens nach der Aktion und den ersten Ermittlungsverfahren zu organisieren, was leider nicht immer gelungen ist.

Offenkundig waren sich nicht alle bewusst, dass die Anklage wegen § 21 Versammlungsgesetz natürlich hochbrisant ist. Über dieses Konstrukt sollen insgesamt das Versammlungsrecht und Formen zivilen Ungehorsams ausgehebelt werden, wie zum Beispiel ähnliche Anklagen im Zusammenhang der Anti-Nazi-Proteste in Dresden zeigen. Insofern sind die Freisprüche in Münster kein lokales Ereignis, sondern im Kontext der bundesdeutschen Auseinandersetzung um Versammlungsrecht und Demonstrationsfreiheit überhaupt ein erfreuliches Ereignis.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -