Die Regeneration heiligt die Mittel
Die Erfolge deutscher Fußballer in den 80er Jahren im Licht der 800-Seiten-Dopingstudie West
Der Deutsche Fußball-Bund sieht sich seit Veröffentlichung der Studie »Doping in Deutschland« unangenehmen Anschuldigungen ausgesetzt. »nd« liegt die mehr als 800 Seiten umfassende frühere Langversion des Abschlussberichts vor. Manche Details werfen Fragen nach Gründen für die körperliche Überlegenheit der DFB-Fußballer in den 80er Jahren auf.
Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) versucht sich in Schadensbegrenzung. Anlass ist der Bericht der Berliner Forschungsgruppe zu »Doping in Deutschland seit 1950«, in der auch der bundesdeutsche Fußball ins Zwielicht gerät. Schwerwiegendster Vorwurf: Drei Vizeweltmeister von 1966 sollen mit Ephedrin gedopt haben. Der DFB bestreitet Doping vehement, zuletzt Vizepräsident Rainer Koch am Dienstag: »Heute wäre das ein ganz klarer Dopingfall. 1966 ist die Definition von Doping aber eine andere gewesen. Die Einnahme dieses Schnupfenmittels war 1966 erlaubt.«
Koch ignoriert die Berliner Studie dabei offenbar: Schon auf Seite 18 der veröffentlichten 117-Seiten-Version findet sich die überzeugende Gegenrede der Forscher: »Dass es sich um Dopingvergehen handelte, darüber besteht kein Zweifel: Ephedrin stand damals unter dem Punkt 2 (›Drogen der Amphetamine-Gruppe‹) auf der ›Liste der verbotenen Medikamente‹, die damals allen Delegationen vor dem Turnier bekannt gemacht worden war.«
Die immer noch geheim gehaltene Langversion der Dopingstudie liegt »nd« vor. Die 800 Seiten bergen Zündstoff, denn einer der wenigen namentlich genannten Zeitzeugen ist Professor Heinz Liesen. Der arbeitete zunächst erfolgreich bei der Hockeynationalmannschaft und übernahm 1985 unter Teamchef Franz Beckenbauer auch die deutschen Fußballer. Der »Kaiser« habe ihm gesagt: »Das, was Sie da im Hockey machen, brauchen wir im Fußball, ich melde mich bei Ihnen«, erinnerte sich Liesen im Pressebericht einer Pharmafirma.
Was der Mediziner »da im Hockey« unter anderem gemacht hatte, verrät er in der Studie ganz offen: Er begann 1978 damit, Hockeynationalspielern Testosteron zu spritzen - zur besseren Regeneration. Das galt damals nicht als Doping. Auf Seite 366 der Studie spricht Liesen offensichtlich über die Hockey-WM in Buenos Aires: Dort »mussten wir fünf Tage hintereinander jeden Tag spielen. Ich hatte dann immer Probleme mit zwei Spielern, die nach zwei Spieltagen krank wurden. (...) Dann kriegte ich von (Manfred, Anm. d. R.) Donike den Tipp, ich sollte mal ein bisschen Testosteron geben. […] Dann habe ich das ausprobiert, und die wurden nicht mehr krank.«
Wusste Beckenbauer - der kürzlich im ZDF-Sportstudio verriet, er habe zu seiner aktiven Zeit Vitaminspritzen erhalten, ohne zu wissen, was drin war - von Liesens Praktiken? Wandte der Arzt solche Methoden auch bei den Fußballern an? Laut Studie kritisierte der von den Autoren übrigens zwiespältig beurteilte BRD-Antidoping-Kämpfer Manfred Donike auch »nach 1982 Liesens Testosteron-Praktiken«, zu einer Zeit also, als der körpereigene Stoff schon auf der IOC-Dopingliste stand.
1986 wurde die von Beckenbauer und Liesen betreute DFB-Elf in Mexiko Vizeweltmeister. 1990 gelang in Italien der WM-Triumph. Bei beiden Turnieren fiel nicht nur Experten die körperliche Überlegenheit der deutschen Spieler auf. »Bei den Weltmeisterschaften in Mexiko und Italien kamen mir meine Erfahrungen zugute, die ich in heißen Ländern wie Pakistan und Indien mit der Hockeynationalmannschaft gesammelt hatte«, rühmte sich Liesen später.
Bis zu sieben Injektionen pro Tag verabreichte Liesen 1986 jedem Fußballer, von insgesamt 1500 Ampullen berichtete damals der »Kölner Stadtanzeiger«: gefüllt mit Immunstimulanzien und Vitamin B12. Ob auch Testosteron enthalten war, fragten die Autoren der Studie den Arzt Liesen offenbar nicht. DFB-Torwart Toni Schumacher berichtete 1987 in seinem Enthüllungsbuch »Anpfiff«: »Jeden Mittag schluckten wir Tabletten: Eisen, Magnesium, Vitamin B, Vitamin E, ein paar Hormönchen.«
Die leeren Speicher schnell wieder auffüllen - ein Ansatz, der bis heute unter Fußballgrößen von einst salonfähig ist: Solange Dopingmittel der »reinen Regeneration« dienten, habe er »kein Problem damit«, sagte jüngst Bernd Schuster, Trainer des FC Málaga.
Durch Donikes Hilfe wusste Liesen auch schon früh über die Dauer der Nachweisbarkeit von Testosteron Bescheid. So sagte Liesen den Forschern: »Ganz niedrige Dosierung, die - das kriegte ich durch Donike raus - nach sieben Stunden nicht mehr nachweisbar war.«
Wozu war dieses Wissen notwendig, wenn er Testosteron nicht auch verabreichte, als es bereits auf der Dopingliste stand? Ist Liesens Testosteron-Kennerschaft ein Indiz, mit dem man erklären könnte, wieso sich der DFB bis in die 90er Jahre weigerte, die schon zu Beginn der 80er Jahre vom Deutschen Sportbund geforderten Trainingskontrollen einzuführen?
Liesen war trotz mehrerer Versuche in den vergangenen Tagen für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Auf Seite 721 der Dopingstudie erklärt ein namentlich nicht genannter Arzt, bei dem es sich vermutlich um Liesen handelt, jedoch seine Philosophie: »Für mich steht immer die Gesundheit des Athleten im Mittelpunkt. (...) wenn ich einen Sportler habe, der (...) in eine Immunsuppression oder in eine Erkrankung kommt, dann muss ich in der Lage sein, ihn zu behandeln, ob das auf der Dopingliste steht oder nicht.«
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