Im Land der enthaltsamen Wähler
Wie im schwierigsten Wahlkreis Deutschlands um die Bürger geworben wird
Die Hoffnung von Jan Korte ist knallrot und hat silberne Kulleraugen. Sie ist auch schon etwas betagt, handelt es sich doch um einen Kleinbus vom Typ Barkas aus DDR-Produktion. Auf den Dörfern rund um Bitterfeld-Wolfen ist das alles andere als ein Nachteil. »Viele kennen den noch von früher«, sagt Korte. Mancher Dorfbewohner erinnert sich etwa an seine Zeit bei der Feuerwehr. »Man kommt gut ins Gespräch«, sagt Korte. Und das ist schon die halbe Miete.
Die Hoffnung von Kees de Vries ist überwiegend schwarz; auch sie hat Kulleraugen. Es handelt sich um Holstein-Friesen-Rinder, die im großen Offenstall des Landwirts im Dörfchen Deetz unweit der Elbe stehen, Kraftfutter kauen und sich an diesem Tag von den Mitgliedern des Wandervereins Bobbau betrachten lassen. Der Bauer beantwortet derweil geduldig die Fragen der Rentner: ob die Kühe auch auf die Weide kommen (die Antwort lautet: nein) oder wie oft sie kalben. Dann führt de Vries seine Gäste noch zu den Jungtieren. »Ich möchte, dass sie einen schönen Tag haben«, sagt er dabei. Das wäre für ihn schon die halbe Miete.
Korte und de Vries machen Wahlkampf, und zwar auf dem vielleicht schwierigsten Pflaster der Republik. Der 35-jährige Politologe von der LINKEN und der 23 Jahre ältere CDU-Mann, der in Holland aufwuchs, kandidieren im Wahlkreis 71. Der liegt in Sachsen-Anhalt; er erstreckt sich von Bernburg bis Zerbst und von Bitterfeld-Wolfen bis vor die Tore Magdeburgs; und er brachte es bei der Bundestagswahl 2009 zu trauriger Berühmtheit. Es war jener der 299 Stimmbezirke in Deutschland, in dem die wenigsten Wähler von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten. 248 457 Bürger hätten über die Sitzverteilung im Berliner Parlament und über ihren Direktkandidaten mitbestimmen können, nur 143 128 gaben ihren Stimmschein tatsächlich ab. Das entspricht 57,6 Prozent. Zum Vergleich: Der hessische Wahlkreis 181 Main-Taunus, der Spitzenreiter in Deutschland, brachte es auf 79,7 Prozent. Im Bundesdurchschnitt lag die Wahlbeteiligung bei etwas mehr als 70 Prozent.
Warum ist das so? Interessieren sich die Bürger in Anhalt weniger für Politik als die im Taunus? Auf dem Markt in Wolfen-Nord, einem Plattenbaugebiet, das einst für die Arbeiter der Filmfabrik, der Chemiewerke und aus der Braunkohle errichtet wurde und das mit vielen seiner Bewohner in die Jahre gekommen ist, hat es nicht den Anschein. An den Ständen, an denen wie jede Woche Gemüse, Wurst, Pullover und Schlüpfer im Angebot sind, drängen sich die vorwiegend weißhaarigen Kunden; viele treffen sich wie an jedem Markttag auch zum Schwatz. Die Handzettel und Kugelschreiber, die Korte verteilt, gehen weg wie warme Semmeln; nicht wenige der Marktbesucher versichern dem Kandidaten, ihre Stimme habe er sicher. Die Chefin an der Gulaschkanone sagt, während sie eine Erbsensuppe einschenkt, sie habe das Werbematerial auch in ihrer gesamten Verwandtschaft verteilt. »Die gehen alle wählen«, sagt sie und hat dafür einen plausiblen Grund parat: »Wenn sie nicht gehen, kriegen ja wieder die Falschen die Stimme.«
Auch die Wanderfreunde auf de Vries’ Bauernhof stehen nicht im Verdacht, am Negativrekord in Sachen Wahlbeteiligung Mitschuld zu tragen. Zwar seien auch einige ihrer Vereinskollegen enttäuscht von der Politik und davon, welche Wirkung die Arbeit der Berliner Abgeordneten auf ihren Alltag hat, sagt Gisela Zöllner. Eine solche Haltung aber lässt die energische Vorsitzende des Bobbauer Vereins, die mit 73 Jahren zugleich dessen jüngstes Mitglied ist, nicht gelten. Es gehöre sich, dass man eine politische Meinung hat, sagt sie, und vor allem gehöre es sich, an der Wahl teilzunehmen. Wenn jemand doch einmal Zweifel äußern sollte, wird Zöllner resolut: »Nüscht gibts«, sagt sie dann, »gewählt wird.«
Das Problem scheint freilich zu sein: Für viele im Wahlkreis 71 gibt es keine Vereinschefin, die im Zweifelsfall mit der Faust auf den Tisch haut und dazu animiert, sich am Wahlsonntag aufzuraffen. Birgit Wessel, die im Mehrgenerationenhaus in Wolfen-Nord arbeitet, weiß das nur allzu gut. In dem sozialen Zentrum, in dem Sportkurse, Malzirkel und Schwangerengymnastik ebenso stattfinden wie Sucht- und Demenzberatung, trifft sie Senioren, die sich am Wahlsonntag in Schale werfen und ihre Stimme abgeben: »Die Älteren sind sehr pflichtbewusst«, sagt sie. Wessel trifft aber auch Menschen mittleren Alters, die seit Jahren keinen Job finden, weil die Wolfener Filmfabrik längst abgewickelt, die Bitterfelder Kohlegrube zum Badesee geworden und die Belegschaften der Chemiefabriken radikal verkleinert worden sind. Viele von ihnen erwarten von »denen da oben« nichts. Und Wessel trifft auch die Jungen, die es in der Schule nur mit Mühe bis zur Achten geschafft haben und nicht wissen, dass eine Wahl stattfindet oder wie Politik in Deutschland überhaupt funktioniert. »Das ist ja auch eine Frage der Bildung«, sagt Wessel. Bei etlichen derer, die in Wolfen-Nord leben, ist es darum nicht gut bestellt.
Was macht in einer solchen Situation ein Politiker, der auf Stimmen angewiesen ist? Kees de Vries setzt auf den Wohlfühlfaktor. Der Landwirt schrieb alle rund 1100 Vereine im Wahlkreis an und lud die Mitglieder zu sich auf den Bauernhof ein. 30 Gruppen kommen. Das klingt nach nicht viel, doch de Vries’ schlitzohriges Kalkül ist simpel: »Die Besucher haben ja alle Kinder, Enkel und Verwandte«, sagt er. Denen würden seine Besucher von ihrem Ausflug erzählen, und wenn die einen wie die anderen am 22. September in der Wahlkabine auf den langen Zettel mit den Kandidaten und den Parteien schauen, erinnern sie sich vielleicht just an den Mann mit dem ungewöhnlichen Namen. Das alles erklärt de Vries mit Verve und Begeisterung, bevor er die Bobbauer Wanderer auf der Wiese vor dem Stall zum selbst gebackenem Kirschkuchen einlädt. »Hunger macht böse«, kommentiert der Landwirt im schönen Rudi-Carell-Akzent, »also füttere ich sie erst einmal satt.«
Derweil erzählt er seine Familiengeschichte: dass er 1992 mit Frau und zwei Brüdern in den Osten kam, weil es dort Land und Milchquote gab; dass er sechs Kinder hat, was spontan für Szenenapplaus sorgt; dass er, nachdem er den Papierkram für den Hof erledigt hatte, aber im Stall nicht gebraucht wurde, »nicht mehr ausgelastet« war. De Vries engagierte sich erst im Bauernverband, dann im Kreistag. 2009 schickte ihn die CDU ins Rennen um das Bundestagsmandat, das er denkbar knapp verlor: 365 Stimmen fehlten am Ende auf Korte. Diesmal setzt er auf seine vermutlich etwas gewachsene Bekanntheit, auf das klassische Repertoire von Plakaten bis zu Marktständen - und auf seine Kühe. Jeweils einen Vormittag nimmt er sich Zeit, seine Gäste über den Hof zu führen. Er redet viel - nur ein Thema kommt nicht vor: Politik. »Sie sollen einen gemütlichen Tag haben«, sagt er entwaffnend ehrlich: »Ohne große politische Reden.«
Korte fährt derweil das Kontrastprogramm. Zwar ist auch das Buch, mit dem er derzeit auf Lesereise ist, kein politisches Manifest: Der gebürtige Westdeutsche erzählt darin Anekdoten aus seinem Abgeordnetenleben im Osten. Doch das ist für Korte Kür. Zur Pflicht gehört es, sich um Politik zu kümmern - freilich nicht nur um die großen Berliner Themen und auch nicht erst in den letzten Wochen vor der Wahl. Er organisiert auch mal einen Raum, wenn sich erboste Mieter versammeln wollen, denen vor Weihnachten eine Mieterhöhung ins Haus geflattert ist. Er klingelt bei Behörden, wenn Händler klagen, weil auf dem Wochenmarkt die Gebühren für die Stände steigen. Er sammelt Unterschriften, wenn eine Flüchtlingsfamilie abgeschoben werden soll, und verbündet sich dafür mit dem Pfarrer, der sonst nichts mit der LINKEN am Hut hat. Seine Bürgersprechstunde, die auf Wochenmärkten stattfindet, hält er im Sommer wie im Winter ab. »Mit dem großen, schnellen Auftritt muss man hier niemandem kommen«, sagt Korte: »Die Leute wollen sehen, dass man sich kümmert und sich nicht zu schade ist für ihre Sorgen.«
Ob all das am 22. September reicht für einen erneuten, wenn auch womöglich knappen Sieg - das ist offen. Eine kürzlich veröffentlichte Umfrage des MDR sorgte für Entspannung eher bei de Vries als bei Korte. Allerdings, hat dieser beobachtet, spielt Parteipolitik in dieser Region ohnehin immer weniger eine Rolle: »Damit sind viele Leute durch«, sagt Korte. Was zählt, fügt er an, sei »die B-Note«: Engagement, Einfälle, Originalität. Vor allem Nichtwähler, heißt es in einer kürzlich publizierten Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, wünschten sich eine »kümmernde Politik«. Wer sie praktiziert, kann es vielleicht auch schaffen, ein paar mehr Menschen in die Wahllokale zu bewegen. Dort können sie dann tatsächlich wählen, ob ihre Hoffnung schwarz oder doch eher knallrot ist.
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