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Trauerfeier für Paul
Anne Dorn: »hüben und drüben«, eine Ost-West-Geschichte
Wer glaubte, Familienromane seien überholt, sieht sich in jüngster Zeit eines Besseren belehrt. Umfangreiche Familiensagas kommen aus aller Welt zu uns und erfreuen sich einer großen Leserschaft. Allerdings müssen sie möglichst viele individuelle Querelen enthalten. Da hat es eine kleine, unspektakuläre, traditionell erzählte deutsche Familiengeschichte nicht leicht, so könnte man meinen. Oder kommt sie gerade dem Bedürfnis nach menschlichem Maß entgegen? Anne Dorns Roman belegt letzteres. Atmosphärisch dicht schildert sie ein eigentlich alltägliches Ereignis, das aber durch die Zeitumstände aus der normalen Lebensordnung fällt. Sie knüpft ein überschaubares Personengeflecht aus drei Generationen und fügt es in das Zeitgeflecht deutsch-deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts ein.
Ende der sechziger oder zu Beginn der siebziger Jahre, im August, ist in einer Kleinstadt nahe Dresden der alte Paul Schwengler nach einem arbeitsreichen, von den Zeitumständen geprägten Leben gestorben. Zur Trauerfeier kommt seine Familie aus beiden Teilen Deutschlands zusammen. Paul, aus einer kleinen Kohlenhandlung stammend, hatte früher als Büroangestellter in der Zinkwarenfabrik gearbeitet. In den zwanziger Jahren hatte er mit seiner Clara eine Familie gegründet, sie hatten zwei Töchter, Elisa und Inga, bekommen, später den Sohn Philipp. Der Junge war noch in den letzten Monaten des Krieges eingezogen worden und nie zurückgekehrt. Das hatte Clara nicht verwunden. Nun liegt sie schon lange auf dem Friedhof unter dem schwarzen, polierten Grabstein mit der Lücke für Pauls Namen.
Die Töchter gingen nach dem Krieg in den Westen, heirateten dort, bekamen Kinder und wurden wieder geschieden. Beider Leben verlief unterschiedlich, Elisa heiratete ein zweites Mal, und zwar recht komfortabel. Inga hat einen wesentlich bescheideneren, alternativen Lebensstil zusammen mit Hanno, der gerade seine Arbeit verliert. Der rüstige Rentner Paul machte immer seine Westreisen und war so das Bindeglied der Familie. Drüben bleiben wollte er nie. Zum Erstaunen aller Freunde und Familienmitglieder war er aber zuletzt mit der jungen Petra zusammengezogen und noch einmal so etwas wie ein Vater für deren kleine Tochter Wiebke geworden.
Nun trifft sich also die Familie zur Trauerfeier. Petra hat für alles gesorgt, Essen in der Bahnhofswirtschaft bestellt, der Tag scheint harmonisch zu verlaufen. Doch dann brechen auf einmal beim Kaffeetrinken in Petras bzw. Pauls Wohnung Ost-West-Konflikte auf. Die Töchter glauben sich um ihre verlorene Heimat betrogen, einige Ostverwandte um die Teilhabe am Westwohlstand.
Anne Dorn hat den Roman erstmals 1991 veröffentlicht, da lagen die Konflikte noch offen. Heute ist das (leicht veränderte) Buch eher als eine Art Sozialstudie interessant. Am schönsten sind die Kindheitserinnerungen darin, offensichtlich sind es die der Autorin selbst. »All die dunklen Flecken auf der Seele, die Lichttupfer der Kindheit, das blasse Blau gewöhnlichen Tage«, heißt es einmal, und an anderer Stelle erinnert sich Inga: »Sonnenglast und Schweißperlen eines Kindes, das im Rucksack Mehl nach Hause trägt ...« und beim Überspringen der Pfützen der »breiige Lehm zwischen den nackten Zehen«. Hier überspringt traurig-schöne Erinnerung an »das Gehege der Kindheit« im Rückwärtsgang ein Kapitel Geschichte, dem die Nachwelt heute schon nur noch Friedhofskränze flicht.
Anne Dorn: »hüben und drüben«. Roman. Mit einem Nachwort von Lew Kopelew (1991). Dittrich Verlag. 315 S., geb., 19,80 €.
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