Scheinheiliges Wahlrecht im Feudalstaat
»Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten.« Dieser Satz, der sich vor der Bundestagswahl auf einem überklebten Parteienplakat in Hamburg fand, mag ein Sponti-Spruch sein oder nur albern. Aber er enthält außer Staats- oder Politikverdrossenheit auch die sich immer weiter verbreitende Meinung, Wahlen brächten »doch sowieso nichts«. Denn die Wahlbeteiligung der Deutschen sinkt seit vielen Jahren - egal, ob bei Bundes-, Landtags- oder Kommunalwahlen. Die »Nichtwähler« sind immer häufiger die größte Partei.
Da ist Gegensteuern wahre Demokraten-Pflicht. Vom Bundespräsidenten über die Spitzenkandidaten und -kandidatinnen bis zum »Spiegel« - die offizielle Republik sperrfeuerte in den Tagen vor der Wahl aus allen Rohren auf die Nichtwähler, um sie am 22. September an die Urnen zu treiben. Heraus kamen 0,7 Prozentpunkte mehr als beim historisch schlechten Ergebnis von 2009, als drei von zehn Wählern ihre Stimme für sich behalten hatten.
Die fast 19 Millionen Nichtwähler vom vergangenen Sonntag werden sicher nicht alle zur bundesdeutschen Talkshow-Intelligenzija gehören, die sich in den Wochen vor der Wahl als Demokratie-Verächter öffentlich gegenseitig auf die Schultern klopften. Die meisten der 19 Millionen Stimmen waren am vergangenen Sonntag verstummt, weil sie sich dachten: Was soll’s, es ändert sich ja doch nichts.
Soziologen und Politikwissenschaftler sehen sogar eine »Gefährdung der Demokratie darin, wenn große Teile der Bevölkerung mit der Besetzung von Parlamentssitzen nichts zu tun haben wollen«, so eine aktuelle Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Thema. In Regionen und Revieren mit hoher Arbeitslosigkeit und vielen Hartz-IV-Betroffenen liegt die Wahlbeteiligung erfahrungsgemäß bis zu einem Fünftel niedriger als in den Stadtteilen, in denen die Wohlhabenderen wohnen. Wie viele Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme abgeben, lässt sich eben doch aus der sozialen Struktur des Quartiers ableiten. Kurz: Je ärmer die Leute, desto weniger von ihnen gehen wählen.
Einer zunehmenden Zahl von Wahlberechtigten scheint also klar, dass der Artikel 20 des Grundgesetzes - »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ... ausgeübt« - nur noch theoretisch die Wirklichkeit beschreibt. Tatsächlich sind Millionen Nichtwähler der Ansicht, ihre Stimme auf dem Wahlzettel zähle nur noch pro forma. Und so bleiben sie resigniert den Wahlurnen fern - da helfen auch der Hinweis auf die paar tausend Stimmen, die Edmund Stoiber (CSU) 2002 zur Kanzlerschaft fehlten und der versammelte Weckruf zur moralischen Wahlpflicht nicht.
Wenn die Staatsgewalt tatsächlich vom Volke ausgehen und wenn es Gerechtigkeit an sozialer Teilhabe geben soll, braucht es statt privilegierter Willkür von Lobbyisten aus dem Macht- und Finanzadel demokratisch legitimierte Teilhabe an der Macht. Ein Staat, in dem Leistung und Chancengleichheit nur noch in Sonntagsreden beschworen werden, in dem nur wenig durch Wahlen und so viel mehr durch Geld, geerbte Macht, Patronage und Karriere-Netzwerke entschieden wird, ist auf dem Weg sich zu »refeudalisieren«. Es sind nicht die fünf Millionen privilegierten Wahlberechtigten, die fast zwei Drittel der Vermögen in dieser Republik besitzen und darob am Bestehenden verdrießen, es sind die 50 Millionen Wahlbürgerinnen und Wahlbürger, die sich das andere Vermögens-Drittel teilen müssen und von denen man vielen sogar schon die Hoffnung genommen hat, mit ihrer Stimme etwas zum Besseren zu wenden.
Manchmal reicht es nicht, wenn wählen zu dürfen ein Privileg ist. Darum sollte es nicht länger nur eine moralische, sondern eine gesetzliche Pflicht sein.
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