Streitpunkt Europa

Buchmessensplitter: Henryk M. Broder traf auf Hans Eichel

Konträrer konnten die Disputanten nicht sein: Der eine ein lang gedienter SPD-Politiker, dem man kühlen Sachverstand bescheinigt, Oberbürgermeister, Ministerpräsident, Bundesminister war er; der andere ein streitbarer Publizist, der sich in der Rolle eines geistigen Agent Provocateur gefällt, regelmäßiger Kolumnist in den großen und großbürgerlichen Zeitungen dieses Landes. So ging es denn auch lebhaft zu am Stand des Vorwärts-Verlages. Zuvor jedoch sonnte sich Henryk M. Broder minutenlang im Blitzlichtgewitter der Fotografen. Er trug ein blaues T-Shirt mit der Aufschrift »Schengen«, darum kreisend die gelben EU-Sterne, verbunden mit Stacheldraht. Ja, auch um die mörderische Abschirm- und Ausgrenzungspolitik Europas sollte es bei der mit einiger Verspätung eröffneten Gesprächsrunde gehen, die der Vorstellung von Broders neuestem Buch diente: »Die letzten Tage Europas. Wie wir eine gute Idee versenken«.

Der ehemalige Bundesfinanzminister Hans Eichel hat es gelesen und ist mit dessen Thesen ganz und gar nicht einverstanden. Er fand darin - wie er Broder wissen ließ - »alle alten Vorurteile« wiedergekäut, »nur eben in Anekdoten gekleidet«. Worauf dieser zurückbellte: »Das sind keine Anekdoten, sondern Fakten.« Streitpunkt im konkreten war die von Broder kritisierte Normierung von Gurken, Bananen, Glühbirnen und Duschköpfen durch die EU. Für den Autor der blanke Standardisierungswahn, für den es nicht eines Apparates von 50 000 Männern und Frauen in Brüssel bedarf. Eichel konzedierte: »Ja, das mit der Gurke ist eine dumme Geschichte. Aber festzulegen, dass in einer 100-Gramm-Packung auch 100 Gramm drin sind, ist wichtig«, beharrte der Volkswirt. »Das ist doch banal«, widersprach Broder. Die Europäische Union beschäftige sich nur mit irrelevanten Angelegenheiten, statt beispielsweise die nach rechts driftenden Ungarn »an die Leine zu legen«.

Für Broder steht fest: »Der Wahnsinnsversuch Europa ist gescheitert.« Eichel insistierte: »Nein, die europäische Idee ist gut.« Sein Gesprächspartner höhnte: »Auch die Idee des Urchristentums war gut. Und der Sozialismus war eine großartige Idee. Das werden Sie als frustrierter Sozialdemokrat wohl einräumen?« Eichel empört: »Ich bin nicht frustriert!«

Die Moderatorin musste einschreiten. Der Angegriffene durfte seinen gedanklichen Faden wieder aufnehmen: Die europäische Idee sei so alt wie die Nationalstaaten, geboren mit der Aufklärung, schon bei Immanuel Kant zu finden; sie konnte aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg politische Realität werden - als Lehre aus Nationalismus, Rassismus, Imperialismus und Krieg. »Wir haben Deutschland auch nicht aufgelöst, weil vieles fehlgelaufen ist. Und so werden wir auch nicht die europäische Gemeinschaft auflösen.«

Broder konnte nicht mehr an sich halten: »Kommen Sie mir nicht als Oberlehrer.« Und wollte nun beweisen, dass auch er sich in der Geschichte auskenne. »Die europäische Idee könnte man auch schon mit dem Wiener Kongress ansetzen. Oder mit Karl dem Großen, der als Vater Europas gilt. Eigentlich waren auch schon die Wikinger Europäer. Napoleon war Europäer. Europa beginnt mit den Hellenen.« Hoppla-hopp, das waren wahrlich muntere Sprünge durch die Jahrhunderte. Was wohl dem Erregungszustand zuzuschreiben war.

Auch in der Bestimmung der Verantwortlichen für den Tod der Flüchtlinge vor Lampedusa waren sich die Diskutanten nicht einig. Broder zürnte: »Barroso hat die Chuzpe, nach Lampedusa zu fahren, und wundert sich dann, dass ihm ›Schande‹ und ›Mörder, Mörder‹ entgegenschallt. Es fehlt nur noch, dass auch noch Rompuy und Schulz, die beiden anderen Versager in der EU, nach Lampedusa fahren!« Eichel intervenierte: Weder der Präsident der Europäischen Kommission noch der Präsident des Europäischen Rates und der des EU-Parlaments hätten Lampedusa zu verantworten, sondern die egozentrischen Nationalstaaten, allen voran Deutschland, die sich nicht auf eine humane Flüchtlingspolitik einigen könnten: »Das ist das Elend.« Für Eichel ist Bundesinnenminister Friedrich ein Baumeister der sich immer mehr einmauernden Festung Europa. Der SPD-Politiker übte Generalkritik an der Regierung Merkel: Ihr fehle der Sinn und das Interesse für Europa, anders als Helmut Kohl, der mit dem französischen Premierminister Francois Mitterrand das europäische Projekt befördert habe, oder zuvor der sozialdemokratische Kanzler Helmut Schmidt und dessen Kollege Giscard d’Estaing.

Wehmütige Rückblicke in die Vergangenheit sind Broders Sache nicht. Und er bestand auf seiner Behauptung, die verschiedenen politischen und sozialen Kulturen sowie ökonomischen Standards der europäischen Staaten seien nicht unter ein Dach zubringen. »Deutschland und Rumänien sind so verschieden wie ein Porsche und ein Trabant.« Broder wetterte gegen den Finanzausgleich. Eichel verteidigte den Finanztransfer. Für ein sozial gerechtes und friedvolles Europa sei der Ausgleich der Wohlstandsgefälle wichtig. Eichels Ausführungen zum sozialdemokratischen Konzept für ein besseres Europa unterbrach Broder abrupt mit dem Bekenntnis: »Ich bin erziehungsresistent.« Nun schaltete sich das Publikum ein: »Lassen Sie ihn doch mal ausreden.« Worauf Broder zur Publikumsbeschimpfung ansetzte.

Wieder griff die Moderatorin ein und fasste - die Zeit war endlich um - zusammen: »So leidenschaftlich, wie Sie hier diskutierten, kann ich davon ausgehen: Sie beide brennen für Europa.« Eine Steilvorlage für Broder: »Das klingt ja wie ›Brennen für Danzig‹.«

Schluss. Die Mikrofone wurden abgeschaltet. Eichel und Broder gaben sich die Hand und signierten fürs Publikum - der eine sein neues Buch, der andere Autogrammkarten.

Henryk M. Broder: Die letzten Tage Europas. Wie wir eine gute Idee versenken. Knaus Verlag, 224 S., geb., 19,99 €

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