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Diese Ironie zielte auf tiefere Bedeutung
Über den Umgang mit der Wahrheit: »Märkische Forschungen« von Günter de Bruyn
Der Untertitel: »Erzählung für Freunde der Literaturgeschichte«. Aber dieses Buch von 1978 wollte Gegenwart treffen, auch wenn Günter de Bruyn bis in die Zeit der der Französischen Revolution, der Napoleonischen Kriege und die anschließende Zeit der Restauration zurückdenken lässt. In diesen fernen Rahmen rückt er die erfundene Gestalt eines Historikers und Dichters namens Max von Schwedenow. Ihn lässt er 1770 geboren sein - wie Hölderlin, Hegel, Beethoven -, von den Wirren der Revolution in Paris unmittelbar gepackt, sodann in einem kleinen märkischen Ort, »Dreiulmen« genannt, sein Spätwerk verfassen. Die Spur verliert sich, scheint es, in den Befreiungskriegen von 1813. Die ihm zugeschriebenen Werke heißen: »Denkwürdigkeiten der Koalitionsfeldzüge bis zum Baseler Frieden«, »Der Friedensbund«, der Gedichtband »Verwelkter Frühlingskranz« und die Romane »Barfuß«, »Rusticus«, »Die Geschichte Emils des Deutschen«.
Doch das eigentliche erzählerische Anliegen Günter de Bruyns sind die 70er Jahre der DDR. Und er erfindet abermals: zwei Entdecker und Bewunderer jenes Max von Schwedenow, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Da ist einmal der Dorfschullehrer Ernst Pötsch, ein Original, ein Lokalforscher. Er lebt in Schwedenow, wo der Dichter geboren wurde, so gehört sein Sinnen und Trachten den Details von Leben und Werk.
Sein Lebenspendel schlägt nun ins Extrem durch eine unerhörte Begegnung: mit dem berühmten Professor Winfried Menzel, dessen Auto im winterlichen Schlamm märkischer Wege steckengeblieben war. Pötsch, bei strömendem Regen, auf schwankendem Fahrrad vorbeikommend, wird zum rettenden Engel - um sodann, so hoffte Menzel, in seinem Institut zum nützlichen Mitarbeiter zu werden.
Menzels Schwedenow-Bild ist fertig, niedergelegt in einer 600-Seiten-Monographie, eingefügt in die offizielle Erbe-Konzeption. Da wird aus jenem Historiker und Dichter ein »kleinbürgerlich-revolutionärer Demokrat fronbäuerlicher Herkunft«, ein »märkischer Jakobiner«, 1813 im antinapoleonischen Befreiungskampf bei Lützen gefallen. Dies müsse man, so Menzel, »unserer Öffentlichkeit ins Bewusstsein hämmern, und zwar so energisch, dass ab sofort kein Historiker und Literaturwissenschaftler mehr an ihm vorbei sehen könnte«. Pötsch arbeitete »mit der Lupe«, Menzel »schaute mit dem Fernglas in die Weite«. Pötsch hat immer noch Fragen, selbst Zweifel: Das Todesjahr Schwedenows ist nicht belegbar. Ist sein Name ein Pseudonym? Ist er gar identisch mit einem gewissen Maximilian von Massow, gestorben 1820, Oberster Preußischer Zensor, selbst ein Denunziant, der seinen Jugendträumen abgeschworen?!
Solche Bedenken sind für Menzel eine Katastrophe. Er wischt sie vom Tisch und schickt den, den er glaubte, für sich ausbeuten zu können, zurück in sein märkisches Dorf. Er kann das und er darf das, weil er »einen Draht« bis zum Minister hat, der zu Menzels 50. fast eine Laudatio gehalten hätte, hätte sie ihm Menzel nicht in witzig-geistvollem Selbstlob abgenommen. (Eminent köstlich und beklemmend zugleich das 10. und 11. Kapitel!) Sein Institut hat er sich völlig untertan gemacht, seine Kollegen bewundern ihn, weil er so erfolgreich ist, und das Publikum seiner Vorträge und Fernsehsendungen »Vergessene Dichter - neu entdeckt«, dankt ihm für solche Art Erhellung der Vergangenheit.
Selten habe ich mich beim »Wiederlesen« so amüsiert wie bei diesem Büchlein. Diese Einzelporträts, diese Episoden, diese skurrilen Einfälle!
Noch bildlich gemacht durch die knorzigen Holzstiche von Karl-Georg Hirsch! Allerdings, »Im Lichte unserer Erfahrung«, blieb mir das Amüsement oft im Halse stecken. Denn es ging ja, am Beispiel jener »Forschungen«, um - nun ein großes Wort - den Umgang mit der Wahrheit.
Das Büchlein konnte erscheinen, weil man die Figur des Professor Menzel zum Einzelfall erklärte. Darauf schwor die Kritik sich ein. Die führende Zeitung konstatierte: »Held und Haltung mit schmaler Basis im Leben«. Der renommierteste Wirtschaftshistoriker hätte sich den Sieg von Pötsch gewünscht und erschlägt den Autor mit einem Darwin-Zitat: »Romane, die nicht glücklich ausgehen, sollten gesetzlich verboten werden.« Eine kluge Rezensentin spricht der Gestalt des Pötsch die »Tragik« ab und verkehrt im Fazit die Intention des Autors: »Märkische Forschungen sind scharf, aber ohne Bitterkeit, spitz, aber ohne Bosheit.«
Es war Christa Wolf, die 1981 in ihrer »Laudatio auf Günter de Bruyn« das Gültige aussprach: Auch dies sei ein Werk, das »eine Fixierung, eine Leidenschaft hervorgetrieben hat, eine persönlichste Erschütterung«. Und noch deutlicher: »Die Frage nach den Verhältnissen, die den autoritären, berechnenden Professor Menzel nach oben tragen und den an den Rand gedrückten braven Pötsch verrückt machen -, die muss der Leser sich selber stellen.« Also die »Verhältnisse«. Dennoch. Dieser Ernst Pötsch hatte nicht aufgegeben. Er sucht, zwar zutiefst verstört, nach dem Beweis-Stein in jenem Dreiulmen. So endet das Büchlein.
In seiner Lessing-Rede, 1929, hatte Thomas Mann festgehalten: »Nicht der wirkliche oder der vermeintliche Besitz der Wahrheit ... macht den Wert des Menschen aus, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt [hat], hinter die Wahrheit zu kommen«. »›Märkische Forschungen‹ wurde 1981 von Roland Gräf zum Film gestaltet, in hervorragender Besetzung. Diese DVD, jüngst wiedererschienen, ist unbedingt zu empfehlen!
Buch (S. Fischer Verlag, 152 S., geb., 9,40 €) und Film (12,99 €) sind lieferbar über den «nd-shop. (030) 2978-1654 oder -1777
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