»Kopp hoch, Kleener, det jeht ooch vorbei«

Eugen Friede über sein Abtauchen in Nazideutschland, Retter in der Not und mutige Widerständler

Als wollten sie sich gegenseitig stützen, schmiegen sie sich aneinander - die kleinen Fachwerkhäuschen entlang der Gasse hügelan zur Burg Kronberg im Taunus, einst Stammsitz eines Rittergeschlechts gleichen Namens, das sich indes mit »C« schrieb. 1367 erhielt Ulrich der Rote von Cronberg vom Kaiser die Marktrechte und Gerichtsbarkeit über die sich um seine Burg ausweitende Siedlung, auf dass er über »Scheltworte, Frevel, Unrecht und alles, was Leib und Gut betrifft«, richte, gerecht gegenüber allen, »die Bürger zu Cronberg sind oder werden, Christen und Juden«. 1933 wurde aus Cronberg Kronberg, das »C« galt den Nazis als »undeutsch«. Im März 1945 besetzten Truppen der 3. US-Army die Stadt nahe Frankfurt am Main. Zu jener Zeit saß Eugen Friede in einer Zelle im Polizeigefängnis am Alexanderplatz in der fernen »Reichshauptstadt«.

Der gebürtige Berliner ist nunmehr in Kronberg zu Haus. Vor seinem Haus blühen in Terrakottatöpfen noch Geranien. Ich werde freundlich hineingebeten. »Vorsicht, stoßen Sie sich nicht den Kopf«, warnt der Gastgeber. Eine schmale Treppe führt ins Wohnzimmer, ausgestattet mit Mitbringseln aus aller Welt, Masken, Schilde, Statuen. Eugen Friede ist viel gereist, rastlos zog es ihn immer wieder fort aus Deutschland. Die Rückwand des kleinen Wohnzimmers ließ der Hausherr durch eine große Fensterscheibe ersetzen. In Herbstsonne gebadet, strahlt im Tal die Banken- und Messemetropole Frankfurt.

Chronik

1. April 1933:
SA boykottiert jüdische Geschäfte, Anwalts- und Arztpraxen.

7. April 1933:
Das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« bestimmt die Entlassung jüdischer Beamter.

22. September 1933:
Ausschluss jüdischer Schriftsteller und Künstler aus der Reichskulturkammer.

4. Oktober 1933:
»Schriftleitergesetz« zur Ausschaltung jüdischer Redakteure.

15. September 1935:
Verabschiedung der sogenannten Rassengesetze auf dem NSDAP-Reichsparteitag in Nürnberg.

14. Juni 1938:
Verordnung über die Registrierung und Kennzeichnung jüdischer Gewerbebetriebe und jüdischen Vermögens.

9./10. November 1938:
Während der »Reichskristallnacht« brennen deutschlandweit Synagogen; an die 30 000 Juden, vor allem Männer, werden in Konzentrationslager verschleppt.

13. Dezember 1938:
Beginn der bereits im Vorjahr begonnenen und nunmehr systematischen »Arisierung« jüdischer Firmen und Geschäfte.

1. Januar 1939:
Reichsweite Einführung der Kennkarte für Juden.

30. Januar 1939:
Hitler kündigt im Reichstag »die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa« an.

30. April 1939:
Juden müssen fortan in »Judenhäusern« leben.

30. Januar 1941:
Erste »Versuchsvergasungen« in Auschwitz.

1. September 1941:
Der Judenstern wird, wie schon in den von der Wehrmacht okkupierten Gebieten, nun auch im »Deutschen Reich« Pflicht.

23. Oktober 1941:
Verbot der Auswanderung von Juden aus Deutschland.

20. Januar 1942:
Auf der sogenannten Wannsee-Konferenz werden technische Details der »Endlösung der Judenfrage« beschlossen.

Mein Interesse weckt jedoch viel mehr die kleine Nische im Wohnzimmer mit Marionettenfiguren an den Wänden: Charlie Chaplin, Marilyn Monroe, Fred Astaire, Ginger Rogers, Sammy Davis junior, Tina Turner ... Aus Sperrholz geschnitten und bemalt vom Veteran. Ein künstlerisches Talent, zweifellos. Ich entdecke Michail Gorbatschow, in einen viel zu engen, zerknitterten blauen Anzug gezwängt, Orden an der Brust und unterm linken Arm einen Globus. Ich lasse den KPdSU-Generalsekretär zappeln und habe einen Heidenspaß dabei.

Die Pogromnacht

In der Schule war Eugen Friede ein eher mittelmäßiger Schüler, erfahre ich, aber in Zeichnen bekam er stets die Note »Zwei«. Auch in Religion, der christlichen, war er gut bewandert, wurde vom Lehrer vor der Klasse gelobt - bis er nicht mehr am Religionsunterricht teilnehmen durfte. Auf dem Zeugnis stand fortan anstelle einer Zensur der Vermerk »nicht arisch«. Seines Judentums war sich Eugen Friede lange nicht bewusst. In der Familie Friede wurde nicht Pessach oder Purim gefeiert. Mutter Anja, in Minsk geboren, konnte aber leckeren »gefillten Fisch« zubereiten. Sein nicht leiblicher »arischer« Vater klärt Eugen auf: »Die Nazis bestimmen, dass du Jude bist. Ein Judenkind darf nicht Hitlerjunge werden.«

Eugen Friede erinnert sich, wie ihn die Mutter am 1. April 1933 verängstigt aus der Volksschule abholt und mit ihm nach Hause eilt, vorbei an Geschäften, deren Schaufenster beschmiert sind: »Deutsche wehrt euch, kauft nicht beim Juden.« Davor SA-Männer mit Schildern: »Die Juden sind unser Unglück.« Anja Friede stöhnt: »Was lassen die sich noch einfallen?« Der Vater versucht, sie zu beruhigen: »Der Spuk ist bald vorbei.« Er irrt. Auch Julius P. Friede wird wegen seiner jüdischen Frau aus seiner Firma entlassen. Und Eugen wird in der Schule immer häufiger »Itzig« und »Knoblauchfresser« geschimpft.

1937 darf er nicht aufs Gymnasium wechseln, das Abitur ist nur noch »Ariern« vorbehalten. Eugens Enttäuschung wird gelindert durch die freundliche Atmosphäre in der Mittelschule der Jüdischen Gemeinde Berlin in der Großen Hamburger Straße 27. Niemand schmäht ihn als Juden. Und sonnabends ist schulfrei. Eine weitere angenehme Überraschung: Mädchen und Jungen werden gemeinsam unterrichtet, da durch die Auswanderung vieler Familien die Klassen kleiner werden.

Julius P. Friede meint immer noch, durch ihn seien Frau und Sohn geschützt. Glaubt er auch noch am Morgen nach der »Reichskristallnacht« vom 9. zum 10. November 1938. Das Verzweiflungsattentat des 17-jährigen polnischen Juden Herschel Grynszpan am 7. November 1938 in Paris auf den deutschen Botschaftssekretär Ernst Eduard vom Rath war den Nazis willkommener Anlass zur Inszenierung des Pogroms. Überall in Deutschland brannten Synagogen. Der Sakralbau in der Oranienburger Straße in Berlin blieb dank des Einschreitens des beherzten Polizeioberleutnants Wilhelm Krützfeld von größeren Zerstörungen verschont. Eugen Friede erinnert sich: »Auf der Straße vor dem Kaufhaus ›Israel‹ lagen Glassplitter, entrollte Stoffballen, demolierte Schaufensterpuppen und leere Schuhkartons.« Schlag auf Schlag folgen weitere Verbote, die Deutschlands Juden stigmatisieren, ausgrenzen, ihrer Habe berauben.

Gebrandmarkt mit dem Stern

Ab 1. September 1941 ist das Tragen des »Judensterns« Pflicht. Unter Tränen näht Eugens Mutter den gelben sechszackigen Stern an den Mantel des Sohnes, der unbekümmert sogleich dessen Wirkung unter Fremden testen will. Doch an dem Tag, da Eugen erstmals seinen »Judenstern« ausführt, geschieht nichts. Er erntet nur ein paar verstohlene Blicke. Das sollte sich ändern. Anders als erwartet: In der Straßenbahn werden Eugen immer häufiger, »zumeist von Männern in Arbeitskluft«, Butterbrote oder Zigarettenpäckchen zugesteckt. »Obwohl ich nicht rauchte. Über solche Gesten des Mitgefühls habe ich mich natürlich gefreut.« Einmal flüstert ihm eine alte Frau zu: »Kopp hoch, Kleener, det jeht ooch vorbei.« Ein anderes Mal weigert sich der Schaffner, von Eugen Fahrgeld zu nehmen. Anja Friede kann dies nicht trösten. Sie leidet, weint ständig. »Mittlerweile wurden Juden in den Osten deportiert«, sagt Eugen Friede. Die Klassen in der Großen Hamburger lichten sich nun darob weiter.

Ende Juni 1942 wird die jüdische Schule geschlossen und Eugen zur Arbeit auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee dienstverpflichtet. Eines Tages rempelt ihn ein stämmiger Mann schmerzhaft an, reißt den Stern zur Hälfte ab und brüllt: »Stinkender Judenbengel, hast deinen Stern nicht richtig angenäht! Verschwinde und näh ihn ordentlich an.« So schnell er kann, flitzt Eugen nach Hause. Das ist der Tag, an dem er zu einem »U-Boot« wird, wie untergetauchte Juden genannt werden.

Auch das letzte Quäntchen väterlichen Optimismus ist nun aufgebraucht. Julius P. Friede bringt den Sohn in ein Hinterhaus in der Gneisenaustraße, wo der alte Tankwart Trautwein lebt, ein Kommunist. Da dessen Frau jedoch vor Angst fast stirbt, wird ein neues Quartier gesucht - und gefunden. Wieder sind es Kommunisten: Familie Horn in Blankenburg nimmt Eugen auf. Gemeinsam hört man BBC und Radio Moskau. Eugen fühlt sich sicher. Bis zum 27. Mai 1943. »Der Junge muss weg«, ruft die vom Einkauf zurückkehrende Frau Horn: »Im Milchladen reden sie darüber, dass wir einen Jude verbergen.« Retter in der Not ist ein Gerichtsschreiber in Luckenwalde. »Kein Kommunist, aber auch kein Nazi.« Hans Winkler hat mit Freunden den »Sparverein Großer Einsatz« gegründet. Um Lebensmittel und Geld für Untergetauchte zu sammeln.

Aus dem eher langweiligen Alltag als »U-Boot« wird Eugen eines Tages durch überraschenden Besuch gerissen. Bei Winklers taucht ein Pärchen auf: eine junge blonde Frau und ein älterer, kräftiger Mann mit roten Löckchen. Die beiden stellen sich als Fancia Grün und Werner Scharff vor. Sie seien aus Theresienstadt geflohen. »Hitler schenkt den Juden eine Stadt« - eine infame Lüge. Von Theresienstadt würden Greise, Frauen, Kinder nach Auschwitz deportiert und dort vergast. »Ich konnte nicht fassen, was sie berichteten.«

Um so entschlossener ist Eugen mit dabei, als Scharff vorschlägt, eine Widerstandsorganisation zu gründen. Die allmählich wachsende »Gemeinschaft für Frieden und Aufbau« verfasst Flugblätter und Streuzettel, die in verschiedene Städte des »Reichs« geschmuggelt werden. Eugen schnitzt aus dem Holz von Zigarrenschachteln einen »Schattenmann«, wie er von den NS-Plakaten »Pst, Feind hört mit!« prangt. Nur ziert seine Figur Zettel mit der Aufschrift »Pst … Hitler verrecke!« Eugens Vater, der mit Eugens Mutter inzwischen ebenfalls in Luckenwalde lebt, reißt ganze Seiten aus Telefonbüchern heraus. Die anderen schreiben die Adressen für Kettenbriefe ab. Winklers kleine Tochter fährt die subversive Fracht im Puppenwagen durch die Stadt.

Eugen hat inzwischen den Grund der Übersiedlung seiner Eltern erfahren. Auch seine Mutter war am 27. Februar 1943, dem Tag der »Fabrikaktion«, von ihrer Arbeitsstelle verhaftet und wie Hunderte andere zwangsverpflichtete jüdische Partner aus »Mischehen« in das Haus der Jüdischen Gemeinde in der Rosenstraße verbracht worden. Von dort sollten sie deportiert werden. Der mörderische Plan wurde durch Angehörige, vor allem Frauen, vereitelt, die vor dem Gebäude lauthals forderten: »Gebt unsere Männer frei.«

Die furchtbare Ahnung, welch grausigem Los seine Mutter knapp entronnen ist, verdrängt Gedanken an die Gefahr, in der sich Eugen selbst mit seinen Freunde durch ihr Tun befindet. Nur Anja Friede klagt: »Sind denn alle meschugge geworden? Ihr stürzt uns noch ins Verderben.« In der Tat ist die Gestapo den Antifaschisten bereits auf der Fährte. Im Oktober 1944 beginnen die Verhaftungen. Am 11. Dezember werden auch Eugen und seine Eltern arretiert. Auf dem Polizeirevier raunt der Vater dem Sohn zu: »Ich konnte das Veronal einstecken. Willst du es haben?« Eugen schüttelt den Kopf. »Obwohl ich selbst wahnsinnige Angst hatte, umarmte ich ihn und sagte: ›Du brauchst es auch nicht.‹ Dann wurde Papa fortgeführt. Ich sah ihn nie wieder.«

Seiner Mutter begegnet Eugen Anfang 1945 im Potsdamer Polizeipräsidiums wieder: »Gebeugt, das Gesicht aschfahl, schaute sie mich aus roten Augen an und fragte heiser, ob ich Hunger hätte. Ohne eine Antwort abzuwarten, zog sie eine Glasscherbe aus ihrer Manteltasche: ›Meine Brille. Nimm, schneid› dir die Pulsader auf, wenn sie dich quälen.‹ Dann weinte sie und schnäuzte sich in den Mantelärmel.« Eugen will die Scherbe nicht: »Mama, es geht mir gut.«

Endlich wieder aufgetaucht

Die letzten Kriegstage ist Eugen im »Sammellager« im Jüdischen Altersheim von Berlin interniert, zusammen mit Russen und Polen. »Wir hörten Geschützdonner und ahnten, die Rote Armee ist nicht mehr weit. Für uns wenig Trost. Jeden Tag wurden einige herausgeholt und kamen nicht wieder.« Am 23. April wird Eugens Name ausgerufen. »Ich stand plötzlich vor einem großen, blonden, blauäugigen SS-Mann. Jetzt hat mein letztes Stündlein geschlagen, dachte ich. Jetzt werde ich von diesem ›Herrenmenschen‹ abgeknallt. An meinem 19. Geburtstag.« Doch der schnauzt ihn nur an: »Hau ab!« Eugen rennt los, »wie wild«. Hält erst inne, als ihm die Puste ausgeht. Er holt tief Atem, muss husten. Pulverqualm und Trümmerstaub treibt ihm Tränen in die Augen. Oder sind es Freudentränen? Eugen ist frei. Aufgetaucht. »Ich war wiedergeboren.«

Anja Friede befreit die Roten Armee in Theresienstadt. Eugen Friede hat keinen »Bock« auf Schule und Berufsausbildung, versucht es mit diversen Jobs, schlägt mal hier, mal dort seine Zelte auf, für einige Jahre in Mailand und Toronto. Er führt ein unstetes Leben. Nicht nur, weil es an väterlichen Ermahnungen fehlt. Vor dem Verfolgungswahn der Nazis in den Untergrund getrieben, bleibt Eugen Friede lange ein Getriebener. Erst im Taunus findet er seinen Ruhepol. Er notiert seine Erinnerungen. Aus Ingrimm über alte Nazis, die er bei einer Kur traf. Und für die Jugend.

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