Der coole Klare aus dem hohen Norden

Tim Borowski: Von Neubrandenburg in die Nationalelf

  • Christian Ernst
  • Lesedauer: 5 Min.
Plötzlich steht da dieser Handwerker mit Vokuhila-Frisur. Vorne kurz, hinten lang - so wie es die Fußballer in den 80er Jahren getragen haben, als es kaum Privatfernsehen und erst recht kein Pay-TV gab. Der Handwerker also, in kariertem Hemd und Zimmermannshose, geht an diesem Morgen in der VIP-Lounge des Weserstadions an einen der Tische und fragt den Fußball-Nationalspieler Tim Borowski: »Ich muss mal kurz raus, etwas holen. Wenn ich wieder rein will, kannst du mir dann die Tür aufhalten?«
Ein Oliver Kahn hätte jetzt wahrscheinlich gefaucht, ein Lothar Matthäus, gelernter Raumausstatter, hätte zu einem Kurzreferat über die Stellung eines Lothar Matthäus in der Gesellschaft angehoben. Und ein Tim Borowski? Der Bremer schaut den Vokuhila-Mann regungslos an, lässt ihn zwei, drei Sekunden zappeln und sagt: »Musst aber laut klopfen, sonst hören wir das hier hinten nicht.«

Keine Allüren, keine Arroganz
Keine Allüren, keine übertriebene Arroganz, kein Abgehobensein. Tim Borowski, der im Sommer mit der deutschen Fußball-Nationalelf Weltmeister werden will, wirkt schon in den ersten Minuten unseres Gesprächs wie ein Gegenentwurf zu diesem hochhektischen Fußball-WM-Frühling. Auch optisch, gekleidet in ruhige Blautöne, als Accessoire nur einen Fingerring.
Borowski, den sie »Boro« nennen, zählt neben Michael Ballack (geboren in Görlitz) und Bernd Schneider (Erfurt) zu den drei Profis im deutschen WM-Team, die in den neuen Bundesländern aufgewachsen sind. In Neubrandenburg, der »Stadt der vier Tore«; ein Viertel der Bevölkerung ist seit der Wende von hier weggezogen.
»Eigentlich denkt man bei Neubrandenburg nur an Leichtathleten und Kanuten«, erzählt der Mittelfeldspieler. Er spricht langsam, so, als wollte er das Frage-Antwort-Spiel beruhigen. »Aber wir hatten im Fußball ein gutes Sichtungssystem mit Stadtteilmeisterschaften.« Zudem hatte es Borowskis Vater Klaus in der DDR zum Jugend-Nationalspieler gebracht. Da schickt man den Junior natürlich nicht zum Rennen oder Paddeln, sondern zum Kicken bei der BSG Post.
Anfang der 90er Jahre kam ein Jugendteam aus Bremen zum traditionellen Knabenturnier in die Stadt. Die Jungs aus dem Westen hatten die besten Schuhe, die besten Trikots und einheitliche Adidas-Trainingsanzüge. Aber zum besten Spieler krönten sie den talentierten Tim. Als der SV Werder im folgenden Jahr wieder nach Neubrandenburg kam, wurde der blonde Bengel abermals auffällig. Diesmal als bester Torschütze. Seither stand er im Notizbuch von Bremens Nachwuchskoordinator Rolf Behrens.
1996, Tim Borowski besuchte inzwischen das Sportgymnasium, wechselte er in das Fußballinternat des SV Werder. Er war damals 16. Noch heute beschreibt er die folgenden Monate als »Schlüsselerlebnis« für seine Karriere. Vom behüteten Elternhaus im beschaulichen Mecklenburg in die Hansestadt mit ihren 550 000 Einwohnern - keine Ortskenntnis, keine Freunde, kein Heimatgefühl. »Ich dachte nur, die Situation wächst dir über den Kopf.«
Der Teenie lässt sich krankschreiben, obwohl er »eigentlich nichts hat«, und flüchtet in den Osten. Daheim in Neubrandenburg redet ihm der Opa ins Gewissen: »Tim, diese Chance kriegen die wenigsten. Tu alles dafür.« Er geht zurück. Nach sechs Monaten ist er über den Berg. »Willensstärke und Durchsetzungsvermögen« empfindet er seit diesen Tagen als die wichtigsten Charakterzüge eines Profifußballers.
Und was hält er von der immer wieder mal laut werdenden Mäkelei, Deutschland hätte keine Straßenfußballer mehr? »Das ist doch Quatsch. Früher haben sie auf der Straße oder auf der Wiese gespielt, heute sind sie auf einem Fußball- oder Bolzplatz. Hauptsache ist doch, dass die Jungs überhaupt jeden Tag spielen - und möglichst immer beidfüßig trainieren.«
Es sind ausgeschlafene Sätze, die der große Blonde mit dem harten Schuss formuliert. Dennoch wirkt der 25-Jährige im Gespräch oft so, als sei er vor einer Minute aus einem Mittagsschläfchen aufgewacht. Dabei hat der 1,94-Meter-Typ gerade das Vormittagstraining hinter sich. Erst war er nicht weiter aufgefallen. Aber dann: drei Tore in fünf Minuten beim Abschlussspiel. Einmal mit links, zweimal mit rechts - und bei allen drei Schüssen war diese breitschultrige Coolness im Spiel.

Ein Gutspieler, kein Schönspieler
Tim Borowski ist kein Mitläufer, er will und kann eine Partie prägen. Er ist ein Gutspieler, kein Schönspieler. Sieben Saisontore hat der Bremer bisher erzielt. Nach Michael Ballack (12 Treffer) ist er der torgefährlichste deutsche Mittelfeldspieler. Längst spekuliert Bayern-Chef Karl-Heinz Rummenigge darüber, den 17-fachen Nationalspieler zu verpflichten, falls Ballack ins Ausland wechselt.
Am Sonnabend stehen sie sich gegenüber, Borowski und Ballack. Die Münchner kommen zum Gastspiel ins Weserstadion. Aber B & B können auch ganz gut miteinander. »Beim 4:1 gegen die USA hat man es gesehen«, betont Borowski. Natürlich möchte er, dass es Jürgen Klinsmann genauso sieht und ihn zum Stammspieler im WM-Team macht.
Der bodenständige Bremer hält viel vom weitgereisten Bundestrainer. »Der stellt sich immer vor die Mannschaft, Hut ab!« Ohnehin sei das Spiel des SV Werder auch das Spiel des FC Deutschland, geprägt von Euphorie, Mut zum Risiko und Steilpässen. »Die Mannschaft ist für die WM gewappnet«, glaubt der Mann mit dem Gardemaß.
Und das Land, ist es auch gewappnet für die Weltmeisterschaft? Borowski runzelt die Stirn, wirkt jedoch nur mittelmäßig erregt. »Die Stimmung in den Medien war nach dem 1:4 in Italien ein bisschen zu kritisch, das ähnelte einer Hetzerei. Irgendwie ist es eine typisch deutsche Mentalität, dieses Schlechtmachen.« Vielmehr sollten Fernsehen, Fans und Fußballer »zusammengeschweißt die WM angehen«, wünscht er sich.
Wenn das Gespräch mit Tim Borowski den privaten Bereich zu streifen beginnt, reagiert er etwa so wie sein Bundestrainer Jürgen Klinsmann. Auch Borowski will Persönliches am liebsten für sich behalten. Der Autofreak spricht zwar von seinem Cabrio, seinem Bruder und seiner Freundin, will aber nichts beim Namen nennen. Selbst in dem neuen Pixi-Kinderbuch über ihn ist Privates tabu. »Wir Mecklenburger«, erklärt er, »sind gelassen, etwas verschlossen, aber dennoch freundlich.«
Und manchmal sind sie auch ein bisschen schusselig. Als Tim Borowski im vergangenen Oktober vor dem Länderspiel in der Türkei am Flughafen einchecken wollte und seinen Pass zeigte, hielt er den Ausweis seiner Freundin in der Hand. Der Morgenmuffel hatte zu Hause voll danebengegriffen. »Die Story stimmt«, bestätigt er lachend, »das war megapeinlich, die Mannschaft musste einige Minuten warten.« Sein Trost: Es hat schon Fehlpässe mit schlimmeren Folgen gegeben.
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