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»Man muss sich gegen die Verharmloser wehren«

Sebnitz. Dämme gegen Rufmord und unliebsame Wahrheiten

  • Lesedauer: 8 Min.

Von Hendrik Lasch, Sebnitz

Während sich Sebnitz wegen des Falls Joseph als Rufmord^pfer sieht, droht in Vergessenheit zu geraten, dass es in der Sächsischen Schweiz ein ernstes Rechtsextremismus-Problem gibt.

Das Hochwasser in Sebnitz geht zurück. Die medialen Wellen schwappen nur noch gelegentlich über den Marktplatz, auf dem Schausteller ihre Fahrgeschäfte aufbauen. Vor zwei Wochen drohte das Bergstädtchen in der hinteren Sächsischen Schweiz, direkt an der tschechischen Grenze, in einer Flut von Berichten und Artikeln unterzugehen. Jetzt sind die Sendewagen abgefahren. Es ist Zeit, die schützenden Dämme wieder aufzutürmen.

»Hochwasser« ist eine Metapher, die Mike Ruckh geprägt hat. Der Mittdreißiger ist Bürgermeister des rund 10000 Einwohner zählenden Städtchens, in das sich Urlauber aus der Sächsischen Schweiz an Schlechtwettertagen verirren und das Alteingesessene gelegentlich als »Ahnewand« bezeichnen - ein altertümliches Wort für die quer gepflügte Furche am Rand eines Kartoffelackers. Am 23. November wurde der Ort aus der verschlafenen Randlage gerissen. »Neonazis er tränkten Kind«, titelte die BILD-Zeitung bundesweit, Untertitel: »Und eine ganze Stadt hat es totgeschwiegen«.

Stunden danach war nicht nur die Zeitung in Sebnitz ausverkauft. »Die Stadt war in Aufruhr«, sagt Rainer Böhme, Inhaber eines Reisebüros unmittelbar neben dem »Dr.-Petzold-Bad«. Dieses Schmuckstück der Stadt wurde ebenso von Reporterscharen belagert wie das Rathaus und die »Center-Apotheke«. Die gehört der Familie Kantelberg-Abdulla, deren sechsjähriger Sohn Joseph am 13. Juni 1997 in dem^Bad zu Tode,kam. Ein Unfall, meinten die Behörden damals; ein Mord, glaubt seither Josephs Mutter, die in akribischer Kleinarbeit Zeugen gesucht und Gutachten besorgt hatte. Für die »staunenden Sebnitzer« sei der Verdacht wie ein »Schlag aus heiterem Himmel« gekommen, sagt Böhme. Binnen kurzem war die Stadt zum Inbegriff für das Totschweigen von Rassismus und eine rechte Gewalt duldende Bevölkerung geworden. In deren Internet-Gästebuch entluden sich Hasstiraden gegen demokratieunfähige Ostdeutsche; einige Schreiber wollten wissen, welche Waren in Sebnitz hergestellt waren, damit man sie boykottieren kann. Das »Hochwasser« hatte den bescheidenen Ruf der Stadt weggespült.

Von »Medien-GAU« und »Rufmord« spricht CDU-Bürgermeister Ruckh, nachdem sich die Strömung ebenso unerwartet wieder gewendet hat. Alle Zeugen wider riefen ihre Aussagen. Drei zunächst Ver haftete wurden im Rathaus willkommen geheißen, und ausgerechnet in der »Jungen Freiheit«, dem Sprachrohr der »neuen Rechten«, mahnt Ruckh nun eine »Entschuldigung« der Medien an. Obwohl Josephs Tod noch längst nicht zweifelsfrei geklärt ist, gab Sachsens Justizminister Manfred Kolbe zu Protokoll, er halte einen Unfall für wahrscheinlich. Über eine ganz einfache, aber wegen laufender Ermittlungen noch nicht präsentable Erklärung orakelt auch Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (beide ebenfalls CDU) was Kommentatoren darauf hinweisen lässt, dass der Fall nun »ein Politikum und juristisch tot« sei: Sollten neue Hinweise doch ein Verbrechen bestätigen, hätte Sachsen eine Staatskrise.

In Sebnitz wie in der Landeshauptstadt sieht man einstweilen vor allem die Medien in einer Krise. Von schlampiger Recherche und vorschnellen Urteilen ist die Rede. »Gnadenlos unverantwortlich« sei die Berichterstattung einiger Zeitungen gewesen, sagt Reisebürochef Böhme - und fügt hinzu: »Wir hätten es wissen müssen. Wir kaufen schließlich auch die BILD « Biedenkopf sieht Klischees über den fremdenfeindlichen Osten bedient und

fordert Wiedergutmachung. Der Bürger meister spricht von materiellen und immateriellen Schäden in Millionenhöhe. Der Landrat hat ein Spendenkonto eingerichtet. Die Medien seien aufgefordert, ihre »Möglichkeit zur Richtigstellung und Wiedergutmachung zu nutzen«, schreibt die örtliche PDS. Wie.groß der Schaden tatsächlich sei, lasse sich kaum beziffern, sagt Böhme. Zwar kursierten Berichte über gekündigte Hotelbuchungen: »Aber mir ist noch niemand abgesprungen.«

Doch allein die Furcht, der Stadtname könnte künftig ähnlich belastet sein wie der von Hoyerswerda oder Solingen, bringt die Einwohner zusammen. Für vergangenen Sonntag war neben einer Lichterkette gegen Extremismus, Gewalt und Intoleranz auch eine dann ebenfalls wieder abgesagte Kundgebung des Bündnisses »Bürger für Sebnitz« geplant, das sich Imagepflege für das Städtchen auf die Fahnen geschrieben hat und dessen Mitglieder von Linken bis zum NPD-Stadtrat Johannes Müller reichen. Von letzterem stammte eine der ersten Erklärungen zum Thema, die in der Stadt kursiert. Als Kreisvorsitzender der Partei protestiere er gegen die »tendenziöse und vorverurteilende Berichterstattung« und zieht Parallelen zur Debatte um das NPD-Verbot. Auch dort finde eine »Kampagne« statt, die Gegner von multikultureller Gesellschaft und Einwanderung »pauschal als Neonazis und Rechtsradikale verdammt«, schreibt Müller und fordert Zivilcourage »gegen jede Gewalt und jede Hetze«.

Das Bündnis sei eine verständliche Abwehrreaktion, glaubt Böhme, der die Medien gleichwohl inzwischen in einer Art Sündenbockrolle sieht. »Das bewahrt uns davor, über die eigentlichen Probleme der Stadt reden zu müssen.« Er nennt die hohe Arbeitslosigkeit, die ein Modellbahnhersteller und eine Bosch-Niederlassung nicht wesentlich drücken. Die jungen Leute ziehen in Scharen weg. Böhme, der mit einer Tschechin verheiratet ist, er wähnt zudem das »extrem polarisierte« Verhältnis zu Ausländern in der Grenzstadt, in der vor allem Händler über die Billigkonkurrenz jenseits der Grenze klagen. Das Wort »provinziell« vermeidet der Geschäftsmann. Er spricht vom engen Horizont vieler Bewohner der »Ahnewand«.

Die jetzt gepflegte kollektive Abwehr haltung könnte gefährliche Nebenwirkungen haben, befürchtet Heinz Senenko vom Sebnitzer Antifa-Bündnis »Spurensucher«, das die Erinnerung an Rassismus und faschistischen Mord bewahren will, indem Besuchsreisen von Schülergruppen nach Treblinka und Treffen mit Überlebenden aus Folterlagern organisiert wer den. Senenko erzählt, wie er Kontakte zwischen jungen Sebnitzern und französischen Widerstandskämpfern oder tschechischen Roma vermittelt, und spricht dabei von »kleinen Beiträgen zur Gestaltung von Demokratie«. Die geistige »Verar mung«, wie sie in den nationalistischen Argumenten der Rechten zum Ausdruck komme, mache ihm Angst, sagt Senenko. Angesichts jüngster Debatten in der Stadt warnt er- »Man muss sich jetzt gegen die Verharmloser wehren.«

Dazu sah sich angesichts der Wendung im Fall Sebnitz auch Sachsens Innenminister Klaus Hardraht (CDU) bemüßigt. Es gebe in Sachsen »einzelne Gebiete, in denen der Rechtsextremismus eine Besorgnis erregende Rolle spielt«, erinnerte er und verwies auf »Hochburgen« in der Sächsischen Schweiz und im Elbtal. Wer daran vorbeischaue, sei »wirklichkeitsfremd und versteckt sich vor der Gefahr«.

Ob Sebnitz eine solche Hochburg ist, bleibt strittig. Körperverletzungsdelikte mit rechtsextremistischem Hintergrund seien in diesem Jahr dort jedenfalls nicht registriert worden, teilt das Innenministerium mit. Das liege wohl auch an fehlenden Gegnern, sagt Senenko. Der Marktplatz werde nach Einbruch der Dunkelheit von Rechtsextremen beherrscht, die mit »Heil Hitler« grüßen. Der Verfassungsschutzbericht erwähnt die »White Warrior Crew Sebnitz«. Zwar verweist Biedenkopf auf die geringe Mitgliederzahl der Gruppe. Diese wird aber im Umfeld der »Hammer skin«-Bewegung eingeordnet, die sich bewusst als zahlenmäßig kleine Elitetruppe definiert. Dass rechtes Gedankengut auch darüber hinaus Anklang findet, zeigt der Wahlerfolg von NPD-Kreischef Müller bei den Kommunalwahlen, wo er mit 6,5 Prozent ein Stadtratsmandat errang. Eine linke Alternativkultur finde dagegen kaum statt, sagt Reisebürochef Böhme.

Zyniker mögen Sebnitz im Vergleich zu anderen Orten in der Sächsischen Schweiz trotzdem als Randproblem einstufen. In Rathen, einem Tourismusort mit sprudelnder Stadtkasse, erreichten NPD DVU und Republikaner bei Wahlen zusammen schon 18,8 Prozent. In Königstein probt der Fahrlehrer Uwe Leichsenring den »Aufstand Ost« und erkämpfte mit fast 12 Prozent zwei Stadtratsmandate für die NPD Beobachter befürchten bereits, die NPD könne nach den Wahlen im kommenden Jahr in Königstein den Bür germeister stellen. Bei den 99er Landtagswahlen kam sie in der Region auf fünf Prozent der Erststimmen. Für ein Kreistagsmandat reichte es, obwohl die Partei nur in vier von 13 Wahlkreisen antrat.

Entgegen ihrer offiziellen Darstellung pflegt die Partei hier auch intensive Kontakte zu militanten Rechtsextremisten. Im Umfeld von Pirna wurden im Sommer Waffenlager der »Skinheads Sächsische Schweiz« (SSS) ausgehoben. Die 100 Mitglieder zählende Gruppierung, die in Böhmen Wehrsportübungen durchführte und gegen die wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung ermittelt wird, bildete im NPD-Wahlkampf den Saalschutz, wofür sich Leichsenring anschließend ar tig bedankte. Auch gegen ihn wird mittlerweile in diesem Zusammenhang er mittelt. Zur Nachwuchswerbung kursieren auf Pirnaer Schulhöfen Fanzines wie »Parole«, die offen antisemitische Propaganda verbreiten. Politische Gegner wer den dagegen durch detaillierte Namenslisten eingeschüchtert.

Die krude SSS-Propaganda gegen Linke, Ausländer und Drogendealer »trifft den Nerv der Region«, sagt Sachsens LKA- Chef Lothar Hofner. Auch die Wahlergebnisse der rechten Parteien legen nahe, dass die Bevölkerung bei weitem nicht so immun gegen rechtsextremistische Gedanken ist, wie es Sachsens Ministerpräsident gern wahrhaben möchte. Die Mehrheit der Bürger in der Region sei gegen pauschale Anschuldigungen, wie sie im Zusammenhang mit dem Fall Joseph jetzt nahe gelegt wurden, in Schutz zu nehmen, sagt der in der Sächsischen Schweiz gewählte PDS-Landtagsabgeordnete Andre Hahn. Das erhebliche rechtsextremistische Problem dürfe aber infolge dessen auch nicht kleingeredet werden, warnt er und spricht von einer »Märtyrer rolle« der NPD Derlei befürchtet auch Heinz Senenko: Dass die Partei in Sebnitz auch bei den nächsten Wahlen nur 6,5 Prozent erreicht, ist für ihn noch keinesfalls sicher.

Die NPD hat wegen angeblich »unhaltbarer Anschuldigungen« im »Fall Sebnitz« eigenen Angaben zufolge bei der Staatsanwaltschaft Hamburg gegen die verantwortlichen Redakteure der »Bild-Zeitung« und der »Bild am Sonntag« Strafanzeige wegen des Verdachts auf Volksverhetzung, falsche Verdächtigung, üble Nachrede und Verleumdung sowie »weiterer in Frage kommender Straftaten« erstattet. Den »widerwärtigen Mißbrauch der Pressefreiheit« werde »die NPD aktiomstisch unter dem Motto «Rote Karte für Volksverhetzen den mißbrauchten Bürgern der Region schildern»

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