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  • Politik
  • Wolfgang Leonhard wird 80

Unbequeme Wahrheiten

  • Klaus Höpcke
  • Lesedauer: 4 Min.

Als 13-Jähriger besuchte ich 1946 mit meiner Mutter «Sozialistische Bildungsabende» der gerade aus der Vereinigung von KPD und SPD hervor gegangenen Sozialistischen Einheitspar tei Deutschlands. Mit knabenhaftem Heißhunger auf neue Sichten las ich mehrere «Sozialistischen Bildungshefte». 44 Jahre später, im Sommer 1990, saß neben mir bei einer Veranstaltung in Erfurt Wolfgang Leonhard. Er berichtete mir, dass er einer derjenigen war, die diese Hefte verfasst hatten. Ich erinnerte mich «auf Anhieb», sowohl der äußeren Gestalt dieser Hefte - roter Umschlag mit dem Titel in einem weißen «Fenster» - des Umfangs - kein Heft länger als 16 Seiten - als auch einiger Themen: Demokratie, Er nährungspolitik, Gleichberechtigung der Frauen, Kampf gegen Hetze der Reaktion, Stellung zu «nominellen Pg‹s» (Mitgliedern der Nazipartei ohne einflussreiche Positionen), Jugend. Ich lobte klare Gliederung, deutliche Sprache und die am Schluss jedem Heft beigegebenen hilfreichen Begriffserläuterungen. Inzwischen habe ich Leonhard mehr fach als Vortragsredner erleben können. Der gereifte Mann schöpft aus einem unermesslichen Wissen. Klar und deutlich sind seine Worte zur Kennzeichnung politischer Sachverhalte, Entwicklungen, Per sönlichkeiten. Ob er an der Erfurter Universität ein ganzes Semester lang über Russlands wechselvolle Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert liest oder im Berliner Wilhelm-Pieck-Haus über seine Eindrücke vom Pankower «Städtchen» der 40er Jahre spricht. Ob er einen Vor trag über Putins Politik hält oder bei der Vorstellung von Dimitroffs Tagebüchern in der Friedrich-Ebert- und in der Rosa-Luxemburg-Stiftung das Wort ergreift. Ob er eine Einführung zur Buchpräsentation einer neuen Ulbricht-Biografie gibt oder in der Berliner Stadtbibliothek ein zum Teil verdutztes Publikum mit in der DDR ver nachlässigten Aussagen von Marx und Engels konfrontiert.

Seine überzeugende, ja fast suggestive Wirkung beruht auf der engen Verschmelzung von Zeitzeugenschaft und Ergebnissen wissenschaftlichen Forschens. Man könnte annehmen, sie entstehe im Augenblick des Redens, so unmittelbar, wie sie daherkommt. Doch bereitet Leonhard sich wohl stets gründlich vor, den Stoff erst einmal durchdenkend. Er erzählt, was er wo wie und mit wem erlebt hat, und er teilt mit, was das Studium von Akten und anderen Quellen nahe legt. Exakte Recher ehe hat bei ihm Vorrang vor spontaner Deutung und Meinungsbildung. Das ist sicher die Oxforder Schule, wo er von 1956 bis 1958 tätig war.

Das publizistisch-literarische Werk Leonhards umfasst 15 Bücher und Tausende Zeitschriften- und Zeitungsartikel. In der jüngsten, der Aprilausgabe von «UTOPIE kreativ» (Heft 128, Seiten 360-362) finden interessierte Leser eine Auswahl-Bibliografie. Seine weltweit bekannteste Publikation ist das 1955 erschienene Buch «Die Revolution entlässt ihre Kinder». In Großbritannien, den USA, Frankreich, den Niederlanden, Schweden, Finnland, Ar gentinien, Japan, dem Libanon und Indien sind Übersetzungen herausgekommen. In der DDR hingegen, wo es einer Übersetzung nicht bedurft hätte, fand es bis 1989 Leser nur über Umwege, durch Überbringer «aus dem Westen». Deren gab es immerhin nicht wenige. Dass aber weder zur Zeit der ersten Ausgabe des Buches in den 50er Jahren noch in der Zeit meiner Tätigkeit im Kulturministerium erwogen worden ist, eine DDR-Lizenzausgabe herauszubringen, beraubte das lebhaft interessierte und diskussionsfreudige Lesepublikum des Landes einer wichtigen Quelle offener Gespräche. Und so blieben auch der Lebensweg des am 16. April 1921 in Wien geborenen Sohns des Lyrikers Rudolf Leonhard, dessen Erlebnisse im Moskau der 30er Jahre, die Verhaftung und Verbannung seiner Mutter nach Wor kuta, seine Tätigkeit in der «Gruppe Ulbricht» 1945 und die Gründe seiner Flucht aus Ostdeutschland nach Jugoslawien 1949 vielen unbekannt.

Wolfgang Leonhard scheut sich nicht, auch manche im Westen unbequeme Wahrheiten zu sagen. So warnte er am 21 Februar 1990 in einem Schweizer Blatt, in der «Basler Zeitung»: «Überhastete Wiedervereinigung führt zu Enttäuschungen.» Und am 10 Dezember 1995 wies er in der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» nach: «Die PDS ist keine Fortsetzung der früheren SED » Er betonte die «Wandlung von der diktatorischen Staats- zur demokratischen Oppositionspartei». Und die Frage, ob Spitzenfunktionäre der DDR für Mauertote im Gefängnis büßen sollen, beantwortete er nach der Urteilsverkündung des Bundesgerichtshofs in Leipzig im Revisionsver fahren zum «Fall Egon Krenz und Genossen» mit dem Vorschlag: «Statt zur Haft sollte Krenz lieber dazu verurteilt werden, drei Jahre lang auf öffentlichen Veranstaltungen zu diskutieren.». An diesen seinen Vorschlag hat Leonhard jüngst wieder nach dem Spruch aus Strasbourg erinnert.

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