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  • Politik
  • Uwe-Eric Laufenberg entsorgt Mussorgski an der Berliner Komischen Oper

Reigen seliger Geister

  • Lesedauer: 4 Min.

Von Laura Naumburg

Das Publikum saß auf der vorderen Kante der Theatersessel. Man hielt die Luft an und wendete den Blick nicht von der Bühne. Es wurde vorgeführt, wie Macht entsteht, wie Macht entstellt, wie sie blendet und blind macht. Schwere Eisengitter, goldgleißende Ikonen, Polizisten, Intriganten und ein Volk, das Hoffnung und Leid mit gnadenloser Inbrunst herausschreit. Das war Modest Mussorgskis «Boris Godunow» in der Inszenierung Harry Kupfers an der Komischen Oper am 20. November 1983.

Dasselbe Stück am 29 April 2001. Der Zar Boris stirbt am Infarkt. Die Bojarenduma debattiert im Straßenanzug. Ein zum Mob herabgesunkenes Volk leiert seine pflichtgemäßen Bittgesänge herunter und schimpft wütend über die miserable Versorgungslage. Es ist weit entfernt von jener verzweifelten Energie, die Mussorgski in seine Chöre hineinkomponierte. Der Zar stirbt weiter.

Die Moral ist auch nicht mehr in Ordnung. Grigori Otrepjew beispielsweise, der abtrünnige Mönch und falsche Dimitri, gefährdet seine Mission als Usur pator auf den Zarenthron durch Sex im unpassendsten Moment. Nicht einmal die Gottesfurcht ist noch das, was sie einmal war. Hochhackige russische Schönheiten laufen im kniefreien Kleinen Schwarzen zur heiligen Bittprozession für das Staatsoberhaupt auf. Die dazugehörigen Herren erscheinen im Look der StamoMaf (staatsmonopolistische Mafia). Ein paar Akte später wühlt der andere Teil der Moskauer Bevölkerung in einer opulenten Bühnenmüllhalde, die bis in den Kremlpalast flutet.

Die Historie in ihrer Ganzheit liefern Filmbilder, welche in der oberen Bühnenmitte flimmern. Der Rote Platz mor gens, mittags, «Abschied von Matjora», abends, sommers, winters, «Geh und sieh», 1. Weltkrieg, Großer Vaterländischer Krieg, Judenvernichtung, Weißes Haus, Jelzin. Manchmal ganz interessant.

Damit immer noch nicht genug des Zierrats, den Uwe-Eric Laufenberg aufbietet, um Modest Mussorgskis nie letztgültig fertiggestellter Oper endlich den richtigen Thrill zu verpassen. Mos-Beat muss her. Zuerst plärrt er aus der Koffer heule des Gottesnarren, später blökt er aus dem Wirtshaus an der litauischen Grenze.

Dass das Orchester der Komischen Oper unter der Leitung von Alexander Anissimow seinen Part recht differenziert, klanglich ausgefeilt und ohne allzu wuchtige Übertreibungen hoch respektabel gestaltete, wurde an dieser Stelle schmerzlich bewusst.

Die plättbrettflachen Vergleiche der Inszenierung zur russischen Gegenwart wollen und wollen kein Ende nehmen. Jeder Eineinhalb-Minuten-Beitrag der «Tagesschau» ist eindringlicher. Schon wieder Saallicht. Ja doch, wir sind gemeint, oder eventuell anwesende Russen, oder Vertreter des IWF oder der Mafia, wer auch immer. Der Zar stirbt immer noch.

An der Rampe knien, stöhnen, Arme hochreißen,, sich ans Herz greifen, immer abwechselnd: Oper, wie wir sie kaum noch kennen und nicht lieben. Der ukrainische Bass Pavel Daniluk ist ein relativ jugendlicher Boris Godunow mit einer für diese Partie ungewöhnlich hellen Stimme, die er beherzt und erfreulich einsetzt. Sein ungebremstes Chargieren schien allerdings immun gegen jeden Ansatz von Personenregie. Auch der lustige Bettelmönch Waarlam wurde aus ehemals Freundesland für seine Rolle verpflichtet. Er spielte genauso entsetzlich, ohne dabei sein Bravourstück, ein witziges Wirtshauslied, auch nur annehmbar zu singen. Günter Neumann als intriganter Bojar Schuiski versöhnte wenigstens mit präzisem Spiel und Bühnenpräsenz. Vom verkniffenen und verschüchterten Bürokraten häutet er sich beeindruckend schnell zum kommenden Mann im Reiche.

Aus den vielen Fassungen des Werkes wurde eine ohne den «Polenakt» gespielt. Daher gab es für Andreas Conrad als Grigori Otrepjew nur kurze Gelegenheiten, in seiner Mönchszelle und im Wirtshaus, zu zeigen, dass er als einziger seiner Rolle stimmlich und darstellerisch gewachsen war. Ein durch Körpersprache und vokalen Gestus definierter aalglatter Ehrgeizling mit religiöser Selbstrechtfertigung.

Der Star auf Uwe-Eric Laufenbergs Besetzungsliste war Andreas Conrad jedoch nicht. Aufgeboten waren Theo Adam und sogar Martha Mödl, zwei Künstler, fort vom Irdischen auf dem Wege zur Legende wandelnd. Martha Mödl gab, fast stimmlos flüsternd, die von ihren jugendfrischen Urenkeln Xenia und Fjodor - Mojca Erdmann und Antigone Papoulkas als Boris Godunows Kinder in erfreulichen Episoden - gestützte würdige Ahnin der Zarenfamilie.

Theo Adam, angetan mit Kutte und langem Zipfelbart, sang den Mönch und Chronisten Pimen. Mit seinem Bericht über einen Kindermord, den Boris Godunow vor 20 Jahren zwecks Machtgewinns beging, bestimmt er den Ausgang der Handlung. Dass Theo Adam diese wichtige Partie mit brüchiger Altherrenstimme singen würde, war vorauszusehen. Nur steht sehr in Frage, ob diese Figur wirklich nichts als der gottesfürchtige Rauschebart ist, den sich Laufenberg naiverweise vorstellt. Zwei verdienstvolle, verehrungswürdige Künstler vergangener Zeiten als Sahnehäubchen auf dem Besetzungszettel einer schlechten Opernproduktion. Heiliger Gottesnarr, die Strafen der Theatergötter sind hart.

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