Im Griff der Riesenschlange
Mit unerbittlichem Spiel ist der Norweger Magnus Carlsen auf dem Weg zum WM-Titel
Magnus Carlsen ist stark. Womöglich zu stark für den amtierenden Weltmeister Viswanathan Anand aus Indien: Vor den Partien am Montag und Dienstag hatte der Herausforderer aus Norwegen schon mit 4:2 geführt. Viele erwarteten, dass der Inder nun versuchen würde, den Rückstand mit seinem gefürchteten Kombinationsspiel zu verkürzen. Doch Carlsen gab ihm keine Gelegenheit dazu. Es endete in zwei schnellen Remis.
Mit jedem halben Punkt kommt Carlsen dem Titelgewinn näher. »Magnus ist das größte Schachgenie«, frohlocken seinen Bewunderer. »Er ist eine Riesenschlange, die dir am Brett die Luft raubt«, klagen seine Kontrahenten. Im WM-Match hat Carlsen diesen Ruf bestätigt.
Anand geht morgen wieder mit dem kleinen Weiß-Vorteil in die Partie. »Und mit Schwarz sollte er endlich Sizilianisch spielen«, raten ihm die indischen Großmeisterkollegen. Für Millionen Menschen des Subkontinents ist der Matchverlauf eine Tragödie. Viele beten während der Partien für den Nationalhelden Anand. Die Schach-WM erfährt weltweit eine recht gute Resonanz. Im Internet gibt es die Partien live, große Zeitungen berichten ausführlich.
Für die Denksportart, die kein Publikumsmagnet ist, interessieren sich während des Duells um den WM-Titel auch viele Nicht-Schachspieler. Zwei Magazine in Deutschland haben Liveticker eingerichtet und bieten Großmeisteranalysen. In den Schachforen freuen sich die Fans über die unerwartete Popularität ihres Sports. Jeder Zug der Kontrahenten in Chennai wird diskutiert.
Schach taugt nicht zum Massensport. Die Faszination liegt im Verborgenen. Jubel ist selten zu sehen, alles spielt sich in den Köpfen zweier Kontrahenten ab. Ihre Figurenmanöver sorgen bisweilen für echte Dramen auf dem Brett. Doch selbst diese stellen nur einen Bruchteil des magischen Spiels dar. Viele Züge geschehen hinter den Kulissen bzw. in den Superhirnen der Großmeister. Ein jeder versucht, die kommenden Ereignisse genauer vorauszusehen als der Kontrahent. Was Carlsen und Anand dabei an gedanklicher Arbeit leisten, können selbst Interessierte kaum nachvollziehen.
In Norwegen ist derweil die Carlsen-Manie ausgebrochen. Die WM-Partien werden im Fernsehen übertragen. Carlsens Manager Espen Agdestein ist euphorisch: »Die Angestellten arbeiten nicht mehr. Die Studenten studieren nicht mehr, in den Schulen lassen die Lehrer den Fernseher laufen.« Carlsen freut das: »Es ist schön, dass so viele sich für das Match interessieren. Ich will weiter mein Bestes geben.«
Mit Magnus Carlsen wurde ein einstiger Sparringspartner von Weltmeister Anand zum Herausforderer. Im Sommer 2008 hatte Carlsen Trainingspartien mit Anand gespielt - zur Einstimmung vor dessen WM-Duell in Bonn gegen Wladimir Kramnik. Bei dieser Gelegenheit konnte er sich eine Menge vom Weltmeister abschauen. Kramnik selbst hatte einst Ähnliches erlebt: Er half Garri Kasparow 1995 in New York bei dessen Titelvereidigung gegen Anand. Fünf Jahre später in London besiegte der Russe seinen Landsmann und Lehrer. Nun kann Viswanathan Anand das gleiche Schicksal wie Kasparow ereilen: Dass ihn sein einstiger Lehrling bezwingt.
Carlsen schaut mit seinen dunklen Augen manchmal finster drein. »Ich glaube, es hilft mir, wenn ich schlechte Laune habe. Weil ich dann diese Energie ins Spiel einbringen kann. Das darf natürlich nicht zu weit gehen, wir spielen ja nur Schach«, sagte Carlsen mal dazu.
Bisher ist Norwegen vor allem als Heimat der Wintersportler bekannt. Seine Langläufer, Skispringer und Biathleten gehören zu den besten der Welt. Carlsen hat durch seine Erfolge auch das Schachbrett in die Herzen seiner Landsleute gerückt. Der Verkauf von Schachspielen im Land stieg um das Dreifache. Nächstes Jahr findet in Tromsø sogar die Schacholympiade statt. Das Nationenturnier soll den Schachboom weiter befördern. Von den norwegischen Boulevardblättern wird Carlsen intensiv beobachtet. Eine Freundin haben sie noch nicht ausmachen können. Am liebsten druckt der Boulevard Bilder von Carlsen mit Hollywood-Star Liv Tyler. Zusammen mit ihr wirbt Carlsen für eine holländische Jeansfirma.
Das Werbegeld und seine Schachhonorare haben ihn bereits zum Millionär gemacht. Gewinnt Carlsen die Weltmeisterschaft, kommt noch ein Batzen dazu. In Chennai geht es um 2,5 Millionen Dollar, von denen der Sieger 60 Prozent erhält. Viel wertvoller aber ist der Titel: Carlsen kann jetzt der 20. Weltmeister seit Wilhelm Steinitz 1886 werden.
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