Stille Sprengkraft

Das Weltkinofestival »Around the World in 14 Films« startet in Berlin und Potsdam

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 5 Min.

Einmal auf der Leinwand um die Welt reisen, in Filmen, die auf den großen Filmfestivals Aufsehen erregt haben - das ist die kuratorische Vorgabe, auf der das Weltkinofest »Around the World in 14 Films« beruht. Dass viele der Filme keinen deutschen Verleih fanden und die Filmreihe die einzige Möglichkeit bietet, sie auf der Leinwand zu erleben, macht sie umso kostbarer.

Die beiden Eröffnungsfilme haben dieses Problem nicht: »Inside Llewyn Davis« von den Coen-Brüdern kommt nächste Woche in die Kinos und auch »Le passé« von Berlinale-Gewinner Asghar Farhadi, der Film, mit dem das Festival heute Abend in Berlin eröffnet wird, wird ab Ende Januar regulär zu sehen sein. Andere Titel sind rarer: Auf den Dokumentarfilm »The Missing Picture«, in dem der gebürtige Kambodschaner Rithy Panh das Leben und Sterben in den Lagern der Roten Khmer als Panorama aus Archivbildern und angemalten Tonfigürchen nachstellt, hätte man sonst wohl lange warten müssen. »The Missing Picture«, das fehlende Bild, das sind eigentlich viele Bilder, die dem Regisseur abhanden kamen. Die Bilder einer normalen Kindheit zum Beispiel, mit der es im April 1975 mit dem Einmarsch der Khmer in Pnomh Penh ein jähes Ende nahm. Die Bilder seiner Angehörigen, die bei der Evakuierung der Stadt verschwanden oder in den Umerziehungslagern auf dem Land an Unterernährung eingingen. Und die Bilder vom Leben all der anderen, die einst die Straßen von Phnom Penh bevölkerten.

Auch die kanadische Schauspielerin Sarah Polley erzählt in »Stories We Tell« die Geschichte ihrer Familie - und darin enthalten die Geschichte eines Familiengeheimnisses. Dass ihre verzweigte Patchwork-Familie nicht nur aus Vater, zwei leiblichen Geschwistern und den beiden Halbgeschwistern aus der ersten Ehe der früh verstorbenen Mutter besteht, wusste sie gerüchteweise schon länger. Einen anderen Mann soll es da geben, mit dem die Mutter auf Tournee eine Affäre hatte, und der möglicherweise ihr biologischer Vater ist. Auch ein Name kursierte seit Jahren - aber war es der richtige? »Stories We Tell« mischt Home Movies mit nachgestellten Szenen und Interviews mit Vater, Geschwistern sowie diversen möglichen Väter-Kandidaten mit Szenen von der Entstehung des Films. Die Crew läuft durchs Bild, die Regisseurin gibt ihrem offiziellen Vater Regieanweisungen und sitzt gleich darauf einem ihrer potenziellen biologischen Väter gegenüber. Eine Untersuchung der Wirklichkeit und der Bestandteile, aus denen sie sich zusammensetzt, ein Mosaik von genutzten und verpassten Chancen - und das anrührende Porträt einer Familie, die sich schon immer wunderte, warum die jüngste Tochter nur der Mutter ähnlich sieht.

Mit Costa-Gavras ist ein Altmeister des dissidenten politischen Kinos unter den Filmemachern des Festivals, auch wenn sein neuer Spielfilm mit dem programmatischen Titel »Le capital« (Das Kapital) den Zynismus in der Abwicklung internationaler Bankgeschäfte aus merkwürdig emotionsloser Distanz abhandelt.

Die Philippinen dagegen sind mit dem bekanntesten unter den jüngeren Regisseuren und einem herzzerreißenden, stillen und gesellschaftskritischen Film vertreten: In »Thy Womb« (Die Frucht deines Leibes) begibt sich Brillante Mendoza auf die Spur der Verwüstungen, die religiöse und gesellschaftliche Vorurteile in den Beziehungen von Menschen anrichten können. Weil ein Mann in dieser wassernahen Gemeinde muslimischer Fischer und Bastmattenknüpfer nichts gilt, wenn die göttliche Gnade ihn nicht mit Kindern gesegnet hat, muss die kinderlose Hebamme Shalewa (großartig: Nora Aunor) damit rechnen, dass ihr Mann sich eine Zweitfrau sucht. Schweren Herzens macht sie sich also selbst auf die Suche nach einer Kindsmutter für ihn. Das Brautgeld wird das alternde Ehepaar um seine wenigen Besitztümer bringen, seine langjährige Vertrautheit aufbrechen, am Ende zum größtmöglichen persönlichen Opfer führen - alles vorhersehbar, alles kein hinreichender Grund, auf die aberwitzige Unternehmung zu verzichten.

Mehrere Filme des Weltkinofestes handeln von gesellschaftlichen Verwerfungen und ihren Folgen für das Individuum, und nicht alle begnügen sich mit solch stiller Sprengkraft. Der sonst subtile und auf Details bedachte Jia Zhang-ke greift in »A Touch of Sin« in unerwartet bluttriefenden Bildern vier Geschichten aus der Zeitung auf, die Schlaglichter auf die wachsende Schere zwischen Reich und Arm in China werfen. Und im zweiten iranischen Film nach der Berliner Eröffnung gehen die Zensoren und gedungenen Mörder des Regimes bei der Verfolgung missliebiger Manuskripte und ihrer Autoren mit denkbar drastischen Mitteln zu Werk. Denn was zählt schon das einzelne Leben - oder selbst viele einzelne Leben -, wenn die beschworene Staatssicherheit gegen die Unterwanderung durch westliche Agenten verteidigt werden muss? Der Regisseur von »Manuscripts Don’t Burn«, Mohammad Rasoulof, stützt sich nach eigenen Angaben auf wahre Geschichten - was seiner Schilderung von Schikanen, Folter, Mord und dem ganz banalen, aber deshalb nicht weniger tödlichen Bösen eine schwer erträgliche Wucht verleiht. Zu einer Zeit, in der die politische Kommunikation mit Iran gerade wieder in Gang zu kommen scheint, ist dieser Film entweder eine mahnende Erinnerung an eine böse Vergangenheit - oder ein ernüchternder Verweis auf das, was möglicherweise hinter den Kulissen weiter stattfindet.

29.11.-7.12., Kino Babylon Mitte, Rosa-Luxemburg-Straße 30, teils mit Filmemachern & prominenten Paten, Kartentel.: (030) 242 59 69, www.babylonberlin.de oder www.14films.de, und Kino Thalia Potsdam, Rudolf-Breitscheid-Straße 50, Tel.: (0331) 743 70 20 oder www.thalia-potsdam.de

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