Auf der Suche nach dem Ureigenen
Höhen und Tiefen einer Künstlerehe: Monika Melchert erzählt die Geschichte von Thea und Carl Sternheim
Der faszinierende Einblick in eine untergegangene Welt verbindet sich in diesem Buch mit dem minutiösen Psychogramm einer Ehe - geradezu paradigmatisch erscheint Carl Sternheim, der bedeutendste Dramatiker aus der Generation vor Brecht, in seiner existenziellen Abhängigkeit von seiner Frau Thea.
Das Rollenmuster, das sich in dieser anfangs strahlend glücklichen, bald schon heillos verstrickten und schließlich in Ausweglosigkeit mündenden Beziehung zeigt, ist eine Variante des kulturgeschichtlich so produktiven Musters vom männlichen Genie und der weiblichen Muse. Ein Genie war Carl Sternheim (1878-1942) ohne Zweifel. Seine scharfen Satiren auf die Doppelmoral des wilhelminischen Kleinbürgertums in Stücken wie »Die Hose« oder »Bürger Schippel« aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg machten ihn zu einem der erfolgreichsten Theaterautoren. Sein Stück »1913«, heute zu Unrecht in Vergessenheit geraten, zeigt hellsichtig einen Kapitalismus, der über Leichen geht, der den Krieg in Kauf nimmt, wenn er nur Profit verspricht.
Als Sternheim 1915 für drei Novellen den Fontane-Preis erhielt, gab er das Preisgeld an den damals nur Eingeweihten bekannten Franz Kafka weiter. Sternheims Stücke, darunter »Der Snob«, beinahe ein Selbstporträt, reüssierten bis in die späten 1920er Jahre. Als die Nazis an die Macht kamen - seit 1930 lebte Sternheim in Belgien - verboten sie Bücher und Stücke des jüdischen Autors. Krank und vereinsamt starb er im Kriegsjahr 1942.
Das Verdienst der kenntnisreich, mit Sensibilität und stilistischer Eleganz erzählten Geschichte der Sternheims, die Monika Melchert uns hier gleich einem Sternheimschen Drama vor Augen führt, ist es, die Bedeutung des Dramatikers und scharfzüngigen Kritikers der wilhelminischen Epoche herauszuarbeiten und zugleich den Preis, den seine Frau und seine Familie bezahlt haben. Mit wachsender Anteilnahme und Respekt verfolgt man den Weg Thea Sternheims, die ihrem Mann auch nach der Trennung loyal verbunden blieb, durch die dramatische Liebes- und Ehegeschichte und die kaum weniger dramatischen Katastrophen ihrer Zeit, zu der zwei Weltkriege gehörten.
Thea Bauer (1883-1971) stammte aus einer katholischen rheinischen Industriellenfamilie und war von Jugend an lebhaft interessiert an Kunst und Literatur. In ihrer Kunstsammlung fanden sich Werke von Van Gogh, Gauguin, Picasso, Matisse, aber auch von Renoir und Delacroix. Ihr Lebensplan zielte auf die Entfaltung ihres kreativen Potenzials in einem künstlerischen Beruf. Sie hoffte auf eine gleichberechtigte Partnerschaft, die ihr diese Entfaltung ermöglichen würde - und wurde in der Ehe mit Sternheim bitter enttäuscht. Sie unterstützte seine künstlerische Arbeit, ertrug seine immer neuen Affären und organisierte das Familienleben, das von häufigen Ortswechseln geprägt war, immer wieder neu. Ihr Leben lang blieb das Schreiben, vor allem aber das Tagebuchschreiben, ihre innere Heimat.
Ihr Tagebuchwerk (1903-1971) ist einzigartig, wobei die veröffentlichten fünf Bände nur etwa ein Drittel des gesamten Bestandes ausmachen. Es gibt nicht nur Einblicke in das reiche Innenleben Thea Sternheims, sondern auch ein Panorama des politischen und kulturellen Lebens in Deutschland und Frankreich und dokumentiert darüber hinaus auch die Freundschaften zu Künstlern und Literaten wie Frans Masereel, Gottfried Benn, André Gide, Henry van de Velde und vielen anderen.
Thea Sternheim, von Jugend an kosmopolitisch orientiert, war eine frühe Europäerin, die Jugendjahre in Belgien, ihre zweite Lebenshälfte in Frankreich und die letzten Jahre in der Schweiz verbrachte. Ihrem 1952 erschienenen Roman »Sackgassen« bescheinigte die junge Rezensentin Ingeborg Bachmann »europäisches Format«, und Gottfried Benn lobte ihn als »ein bedeutendes, ein lebendiges, ein spannendes Buch«. 2005 hat Monika Melchert diesen Roman in ihrer Reihe »Spurensuche. Vergessene Autorinnen wiederentdeckt« neu ediert.
Monika Melchert gestaltet die Geschichte von Thea und Carl Sternheim nach einer eigenen Dramaturgie, indem sie mit dem »Abschied im Adlon«, der Trennung des Paares 1927 einsetzt. Dies ist der Wendepunkt für beide, das bittere Ende einer großen Liebe. Thea Sternheim überlebte ihren Mann und die beiden gemeinsamen Kinder um Jahrzehnte, in denen sie - auch - schrieb. Ihre Tagebücher, ein »ungeheurer Glücksumstand«, ermöglichen uns mitzuverfolgen, »wie eine begabte, von der Natur reich verwöhnte Frau, noch ganz jung und auf der Suche nach dem Ureigenen, sich das erobert, was dann das Besondere ihrer Person ausmachen wird«, und gegen welche Widerstände Thea Sternheim sich dieses Ureigene erkämpfte.
Monika Melchert: Abschied im Adlon. Die Geschichte von Thea und Carl Sternheim. Verlag für Berlin-Brandenburg. 200 S., geb., 18,95 €.
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