Jubel trotz schwerer Kost

Linkspartei bietet nach Mitgliederentscheid den Kritikern der Großen Koalition in der SPD Kooperation an

  • Vincent Körner und Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 4 Min.

Sigmar Gabriel hatte Tränen in den Augen, als klar war, dass seine Strategie aufgegangen war. Als das Ergebnis der Mitgliederbefragung bekanntgegeben und der Jubel verebbt war, fand der SPD-Chef große Worte: »Dieser Tag wird nicht nur in die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie eingehen, sondern, ich glaube, der Tag wird in die Geschichte der Demokratie in Deutschland eingehen.« Die technische Seite der Auszählung war bis ins I-Tüpfelchen organisiert worden und reibungslos gelaufen; 400 Freiwillige hatten seit Freitagnacht die Stimmzettel gezählt. Weniger sicher konnte sich die Führung der Zustimmung ihrer Mitgliederbasis sein. Das Ergebnis zerstreute jeden Zweifel: Der Segen für eine Große Koalition mit der Union für die nächsten vier Jahre ist klar und deutlich erteilt.

Kritische Stimmen mischten sich freilich schnell unter den Jubel der SPD. Dass es sich real um eine Zustimmung von 54 Prozent der Mitgliedschaft handelte, merkte Gregor Gysi an. Diese seien »kein Freibrief für die künftigen SPD-Ministerinnen und -Minister, den Kurs von Kanzlerin Merkel allzu willfährig mitzutragen«. Die Spitze der Sozialdemokraten würde gut daran tun, »das Ergebnis als Auftrag ihrer Basis zu verstehen, in der Koalition mit der Union möglichst viel soziale Demokratie im wirklichen Sinne durchzusetzen«, erklärte der Fraktionschef der LINKEN im Bundestag.

Das Ergebnis

Abgegebene Stimmen: 369.680 (77,86 Prozent)

davon wirksam abgegeben: 337.880

Ja-Stimmen: 256.643 (75,96 Prozent)

Nein-Stimmen: 80.921 (23,95 Prozent)

Die Vorsitzende der Partei Katja Kipping klang ernüchtert. Mit diesem Ergebnis besiegele die Basis der Sozialdemokraten einen Koalitionsvertrag, der »offener Verrat des SPD-Wahlprogramms ist«. Sie habe »Respekt vor allen, die dem großen Druck standgehalten haben«, der von der SPD-Spitze ausgegangen sei, so Kipping. Die Regierungsvereinbarung sei »eine Kapitulationserklärung vor den großen gesellschaftlichen Aufgaben unserer Zeit«. Die Linkenpolitikerin verwies auf eine »notwendige Gerechtigkeitswende, die anstehende Energiewende« und einen jetzt ausbleibenden Kurswechsel in Europa. Kipping sagte, es werde »nun eine Regierung der Technokraten« geben, die »nach einer leidenschaftlichen Opposition« verlange. Ihr Kovorsitzender Bernd Riexinger erklärte am Sonnabend, jetzt komme es »auf die vielen Menschen in Gewerkschaften, Verbänden, Bewegungen« an. Aber auch die Sozialdemokraten, »die weiterhin für einen sozialen Politikwechsel eintreten möchten«, lud er zu einer starken Opposition ein. Hingegen begrüßte die CDU das Ergebnis des Mitgliederentscheids der SPD. Die Weichen für die Bildung einer gemeinsamen Koalition seien nun gestellt, und der Koalitionsvertrag »ein gutes Fundament«.

Die SPD hatte einen Politikwechsel stets zur Bedingung einer Teilnahme an der Großen Koalition erklärt. Noch auf einem Parteitag im November in Leipzig hatte Gabriel um Vertrauen geworben, die Teilnehmer an den Verhandlungen versprachen reihenweise, eine solche Politikwende sei Voraussetzung aller Vereinbarungen mit der Union.

Für Parteichef Sigmar Gabriel und die SPD-Führung hat die Regierungsbildung neben der Freude über die Früchte ihrer Koalitionsverhandlungen und neben der möglichen Schluckbeschwerden wegen verschiedener Krötensorten auch einige organisatorische Folgen im Parteibetrieb. Andrea Nahles, die als Generalsekretärin den Wahlkampf organisiert und die Große Koalition maßgeblich vorbereitet hatte, wechselt in die Bundesregierung und wird Ministerin für Arbeit und Soziales. Damit ist die Stelle der Generalsekretärin vakant.

Als Nachfolger für Nahles hatte Gabriel den schleswig-holsteinische Fraktionschef Ralf Stegner vorgesehen. Aber am Wochenende waren hartnäckig Bedenken gegen den zur Parteilinken zählenden Stegner kolportiert worden. Den Posten von Andrea Nahles solle als Äquivalent zum Parteivorsitzenden wieder eine Frau besetzen. Als Sigmar Gabriel am Mittag die neue Mannschaft im Willy-Brandt-Haus vorstellte, war klar: Er hatte sich gegenüber den Forderungen gebeugt. Die Alltagsgesichter in der SPD seien »zu männlich«. Es sei nicht klug, die drei Führungspositionen mit Männern zu besetzen.

Als Kandidatin sind bisher die ehemalige Landesvorsitzende von Badden-Württemberg, Ute Vogt, und das langjährige Präsidiumsmitglied Doris Ahnen aus Rheinland-Pfalz. »Spiegel online« zufolge ist auch die Gewerkschaftsfunktionärin Yasmin Fahimi unter den Kandidatinnen.

Der Verband Mehr Demokratie e.V. lobte die SPD-Spitze für die Entscheidung, die Parteibasis über den Koalitionsvertrag abstimmen zu lassen. Und Gabriel dankte auch den parteiinternen Gegnern für ihre Teilnahme. Zu den knapp 24 Prozent, die bei der Abstimmung gegen Schwarz-Rot votierten, sagte Gabriel am Samstag: »Auch bei denen bedanke ich mich ausdrücklich.« Sie wolle die Parteispitze in den nächsten vier Jahren überzeugen, dass die Mehrheit der Befürworter Recht hatte.

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