Graue Eminenz der Türkei wendet sich gegen Erdogan
Der Regierungschef verliert einflussreiche Anhänger und muss womöglich den Wunsch nach einem Präsidialsystem begraben
Dunkle Mächte, ausländische und inländische Konspirationen bedrohen Recep Tayyip Erdogan: »Einige Leute haben ihre Waffen, ihre Tricks und Fallen, aber wir haben Allah und das ist genug für uns«, rief Erdogan einer Menge von Anhängern im konservativen Konya zu. Kurz zuvor war eine Großaktion der Istanbuler Staatsanwaltschaft wegen dreier Korruptionsskandale angelaufen. Verwickelt sind die Söhne dreier Minister, der Bürgermeister des Istanbuler Distrikts Fatih, der Direktor der staatlichen Halkbank und ein Bauunternehmer, der Erdogans Partei nahesteht. Insgesamt betrifft die Untersuchung über 80 Personen.
Die Reaktion der Regierung war zwiespältig. Einerseits wurde die Unabhängigkeit der Justiz betont, andererseits beklagte man eine Verschwörung. Am Wochenende wurden zu den bisher 50 versetzten Polizeidirektoren, darunter der höchste Polizist der Metropole Istanbul, weitere 25 Polizeichefs versetzt.
Anders als bei den Gezi-Protesten richten sich Erdogans Anschuldigungen diesmal an eine konkrete Adresse: In Pennsylvania, in den USA, lebt der pensionierte Vorbeter der Istanbuler Blauen Moschee, Fethullah Gülen. Er ist so etwas wie die graue Eminenz der türkischen Politik. Er beherrscht ein Imperium von Medien, Schulen, Universitäten und Stiftungen. Offiziell gehört Gülen persönlich zwar nichts dergleichen, doch ein Netz treuer Anhänger sorgt dafür, dass in seinem Sinne gehandelt wird.
Mit Gülen haben es schon viele versucht. Der konservative Süleyman Demirel hörte seine Predigten, der Sozialdemokrat Bülent Ecevit traf sich mit ihm, ebenso die erste Ministerpräsidentin der Türkei, Tansu Ciller. 1999 musste er die Türkei verlassen, weil die Militärs ein Verfahren gegen ihn angeregt hatten. Gülen wurde beschuldigt, einen islamischen Staat errichten zu wollen. Seinerzeit musste auch Erdogan für einige Monate ins Gefängnis. Danach gab es so etwas wie ein Bündnis zwischen den beiden: Als Erdogan die kemalistische Justiz entmachtete, rückten Gülens Leute nach. Bei der Polizei hatten sie ohnehin ihre Seilschaften.
Dies behauptete wenigstens der Polizeidirektor Hanefi Avci in einem Buch. Wegen dieses Buches, das er für eine terroristische Organisation geschrieben haben soll, verbüßt Avci derzeit eine hohe Freiheitsstrafe. Ein zweites Buch etwa gleichen Inhalts, das der Journalist Ahmet Sik verfasste, sollte erst gar nicht erscheinen. Das Manuskript wurde beim Verlag beschlagnahmt.
Nun aber sieht es so aus, als grübe Gülen mit Hilfe seiner Leute in Polizei und Justiz Skandale aus, um die Regierung in Not zu bringen. Sein Rechtsanwalt Orhan Erdemli erklärte rasch, Gülen habe nichts mit den Untersuchungen zu tun und sei darüber auch nicht informiert. Doch kurz darauf erschien eine Videobotschaft Gülens. Seine Stimme wirkt anfangs sehr gebrochen, erst gegen Ende wird die Rede flüssig. Erdogans Name fällt nicht, doch schon der erste Satz macht die Botschaft klar: »Jeder soll seine Grenze kennen.« Diese Grenze hat Erdogan nach Meinung des Alten aus Pennsylvania überschritten. Der Premier indes beschuldigt Gülen, Werkzeug der USA zu sein.
Tatsächlich kritisierte Gülen den von Erdogan 2010 unterstützten Versuch einer Flottille, die israelische Gaza-Blockade zu durchbrechen. Dabei wurden neun türkische Aktivisten von israelischen Soldaten erschossen. Gülen ist auch gegen die Unterstützung islamischer Fundamentalisten mit Al-Qaida-Verbindungen im syrischen Bürgerkrieg. Es scheint, dass der frühere Vorbeter tatsächlich etwas auf sein Gastland USA setzt.
Anlass für den Ausbruch der seit längerer Zeit schwelenden Krise zwischen Erdogan und Gülen war die Absichtserklärung des Regierungschefs, Tausende Nachhilfeschulen zu schließen, die der Gülen-Bewegung nahestehen. Doch türkische Kommentatoren stellen die Frage nach Henne und Ei. War die geplante Schließung der Auslöser der Krise oder Erdogans Antwort auf wachsenden Druck Gülens? Die Staatsanwaltschaft muss schon vorher Material gehabt haben, das Erdogan gefährlich werden konnte.
Der Schaden für den Regierungschef dürfte beträchtlich sein. Denn es ist eine mächtige Gruppe aus dem eigenen Lager, die sich von ihm abwendet. In den nächsten 18 Monaten sind die Bürgermeister, der Präsident und das Parlament zu wählen. Und auf die Unterstützung von Justiz und Polizei kann Erdogan nicht mehr bauen. Pläne für eine neue Verfassung und die Einführung eines Präsidialsystems nach Erdogans Gusto könnten zu Makulatur werden.
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