Kalter Krieg in Orchestergräben
Julia Glänzel hat eine erstaunliche Studie zur Schönberg-Rezeption in der DDR vorgelegt
Es ist ein erstaunliches und sehr gescheites Buch. Erstaunlich, weil es pauschale Qualifizierungen meidet. Und gescheit ist diese musikwissenschaftliche Arbeit, weil sie eine Fülle von Fakten und Zusammenhängen reden lässt, dieselben in ihrer Widersprüchlichkeit entfaltet, kontextuell einbettet, sorgfältig abwägt und dort, wo es angebracht ist, auch wertet. Von 1945 bis 1974 reicht der Untersuchungszeitraum. Und Julia Glänzel stellt von vornherein klar: Die Schönberg-Rezeption verlief 1950 - während der »heißen Phase« des Kalten Kriegs - anders als 1961, dem Jahr des Mauerbaus, und 1968, als Prag sowjetisch besetzt wurde und Studenten in New York, Paris und Westberlin rebellierten, wieder anders als 1974 zur Zentenarfeier des Meisters.
»Schönberg in der DDR«, das meint die verbale Rezeption, nicht die aufführungspraktische und kompositorische, obwohl die durchschimmert: Die Aufführungszahlen Schönbergscher Werke stiegen seit den 60er und 70er Jahren rasant an. Das Interesse der Schrift liegt indes auf den Debatten, die sich an Schönberg entzündet haben. Julia Glänzel hat eine Unmenge Material zusammengetragen: in Bibliotheken, Komponistennachlässen, in Archiven der Komponistenverbände und der Akademie der Künste, in Einrichtungen, wo gegen Schönberg und seine Zwölftonmethode anfangs Attacken geritten wurden, wo später manch Freundliches über ihn zu hören war und zuletzt die Versöhnung allseits gefeiert wurde.
Eigenartig: Gerade in der frühen DDR, wo ein neues, nichtkapitalistisches Modell der Produktion und des Zusammenlebens entstehen sollte, wo ökonomische, soziale und kulturelle Experimente großgeschrieben wurden, fielen die strukturellen Entdeckungen Schönbergs auf keinen fruchtbaren Boden. Musik, im scharfen Wind der ideologischen Kämpfe missverstanden als bloße Trägerin von Ideologie, verstellte den Blick.
Vor Ost-West-Vergleichen scheut das Buch keineswegs zurück. Aus naheliegendem Grund erwähnt die Autorin Pierre Boulez. Schönberg sei tot, provozierte dieser 1951, was bekümmerte Seelen aufschrecken ließ, denn der große Neuerer, seit 1933 von den Nazis seiner Ämter enthoben und mit Aufführungsverbot belegt, wurde ja eben erst wiederentdeckt. Ähnliches ist zu lesen über die Lage nach 1945 in der SBZ. Schönberg wurde gleichsam neu beatmet, Programme boten vornehmlich Kammermusik. Dann kam, zum Entsetzen vieler, der Kalte Krieg als ein das Ganze erfassendes »großes Unglück«, wie Stephan Hermlin einmal sagte. Schönberg geriet gleichsam in die Mühlen der Systemkonfrontation. Auch dies Teil des Unglücks.
Detailreich vermitteln die Anfangsteile, wie es in der frühen DDR opportun geworden war, unter dem Einfluss der Bannflüche eines Shdanow der Schönbergschen Musik die übelsten Vokabeln anzuheften: menschenfeindlich, destruktiv, kosmopolitisch, dekadent, formalistisch. Gut - böse, schwarz - weiß. Denken in Dualismen nennt das die Autorin. Auch im Westen mussten Personen sich entweder entscheiden oder sie wurden zermahlen. Künstler gerieten vor den Karren der Politik. Welche Ordnung war die bessere, menschlichere? Julia Glänzel belegt, wie sich in der DDR nach 1956 das Schönberg-Bild - trotz mancher Zurücknahmen - wandelte und in den 60er Jahren so weit differenzierte, dass Konturen des »ganzen Schönberg« erkennbar wurden.
Angemessen ist die hervorragende Rolle herausgestellt, die Hanns Eisler im dauerhaften Diskurs um Schönberg und die Wiener Schule spielte. Er stellte seinen Lehrer wiederholt unter geistigen Schutz und argumentierte so intelligent, dass seinerzeit notorische Widersacher wie Georg Knepler, Eberhard Rebling, Ernst Hermann Meyer oder Nathan Notowicz sich genötigt sahen, ihre früheren Ansichten wenn nicht zu korrigieren, so doch zu überdenken. Dass jeder der Genannten ein Verfolgter gewesen war, Kommunist, Jude, Rückkehrer aus dem Exil, erwähnt die Autorin nicht. Die Gruppe, fraglich, ob sie wirklich eine war, galt ironischerweise als das »Mächtige Häuflein«, so tituliert von Paul Dessau. Einheitlich ging sie nicht vor, eher im Gegenteil, es hat »viele Meinungsverschiedenheiten« gegeben. Diffamierung von Personen des DDR-Kulturlebens unterlässt die Autorin. Der unaufhörlich reproduzierten Entgegensetzung: hie die schmählichen Funktionäre, da die widerständigen Künstler folgt sie nicht.
1974 beging die Musikwelt den 100. Geburtstag Schönbergs. Just aus diesem Anlass - die DDR-Kulturpolitik hatte sich kurzzeitig ein liberales Kostüm angelegt - wurde der Meister auch im kleineren Deutschland fast kritiklos geehrt und dem kulturellen Betrieb umstandslos integriert. Danach gab es nichts mehr, das den freien Umgang mit Schönberg ernstlich behindert hätte.
Die Zeit bis 1989 und danach gehört zwar nicht ins Untersuchungsfeld, wohl aber hätten sich Gedanken anschließen können. Nach der Wiedervereinigung wurden die Ausdrucksmittel der Atonalität und Dodekaphonie - im Bewusstsein immer noch Synonyma für Fortschritt, Krise und Angst - keineswegs ad acta gelegt. Im Gegenteil. Ostdeutsche Komponisten wandten sie auch unter den neuen Gegebenheiten an. Wohl nicht nur, weil sie sich und ihrem Material treu bleiben wollten. Vielmehr hatte mancher jenen »Mantel der Einsamkeit«, welcher Schönberg so gut gestanden hätte, nun selber am Leib und kam in Lagen, wie sie Schönberg in den 20er Jahren vorgefunden hatte, als er die Dodekaphonie ersann, eine Zeit großer Erfindungen, folgenreicher Krisen und heraufdrohender Menschheitsgefahren. In dem geschichtlichen Moment von den gebeutelten Künstlern angewandt, erhielten Schönbergs Neuerungen ihre Ursprünglichkeit, ihren genuin sozialen Sinn, ihre Wahrheit zurück.
Julia Glänzel: Arnold Schönberg in der DDR. Ein Beitrag zur verbalen Schönberg-Rezeption. Reihe »sinefonia«, Band 19, wolke verlag, 327 S., 39 €.
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