Ein Halblegaler
Der Schriftsteller Lothar Trolle wird 70
Seine gesammelten Werke tragen den Titel: »Nach der Sintflut«. Eine kompakte Welt der bösen Kaspereien, der schreckensvollen Parabeln, der dunklen Berichte vom wahren Fortschritt - dem Andrängen der Wüste. Nach dem Schlamm der Geschichte, der alles Existierende verschlingt, mutet jenes Künftige, das alles versanden lässt, schon wie ein neues Leben an.
In solcher Persiflage des Utopischen, darin sich das Katastrophische lediglich steigert, erfüllt sich der Witz des wunderbar gleichmütigen Dichters Lothar Trolle - der, wie B.K. Tragelehn, ein letzter Versprengter vom Schlage Müller, Brasch, Schleef durch eine Szene geistert, die es nicht mehr gibt. Einar Schleef ging in Sangerhausen in Lothar Trolles Parallelklasse. Der war mit seinen Eltern aus dem Westen gekommen. Zweite Klasse. Ein Mitschüler stellte fest, Lothar sei wohl ein Idiot, nur Idioten kämen auf die Idee, in den Osten zu kommen.
So fing das an, und es hörte nicht auf: Trolle blieb sein DDR-Leben lang ein Halblegaler, ein schief Beäugter, ein Draußengelassener, ein bunter Hund, ein merkwürdiges Subjekt. Ein fettes Spitzel-Fressen. Trolle hatte Marxismus-Leninismus studiert - ein Irrtum, er hatte gedacht, dies sei Philosophie. Das Thema fürs Staatsexamen: Die Leistungen der SED bei der Gestaltung der Kulturpolitik seit dem 11. Plenum. »Da bin ich nie wieder hingegangen, und die haben sich nie wieder gemeldet.« Geburtsstunde eines freien Autors.
Ein Funktionär des Schriftstellerverbandes sagte mal, er sei sehr traurig - dem Trolle, dem sei ja nicht mal mit dem Sozialismus zu helfen. Mit der freien Gruppe »Medea« führte er in der Berliner Zionskirche Müllers »Hamletmaschine« erstmalig auf. Pression über Pression. 1988 ging er in den Westen. Seine Dramatik (»34 Sätze über eine Frau«, »Die Baugrube«, »Weltuntergang Berlin«) und seine Prosa bestehen aus einem expressiven Verfugen von hartkantiger, metaphorischer Poesie und banalen Nachrichtentönen. Man merkt dieser Kunst den heftigen, stoßharten Atem eines Widerspruchs an, der viel weiß - von den Sphären der schlecht bezahlten Überlebensarbeit in den großen Städten östlicher Aufbrüche und Zusammenbrüche. Der Zusammenbrüche mitten in den vermeintlichen Aufbrüchen. Der Aufbrüche mitten im Kollaps, der vielleicht auch nur ein vermeintlicher ist.
Nicht zufällig, dass »Hermes in der Stadt«, von Frank Castorf just am Deutschen Theater Berlin inszeniert, 1992 zur aufregendsten Lothar-Trolle-Aufführung wurde. Ein Stück, das diesen Autor ziemlich gut erklärt. Und Castorf gleich mit. Stenogramme über alltägliche furchtbare Kriminalfälle sind Flanierübungen eines grausamen Gottes, der mordend, vergewaltigend durch die Stadt zieht, immer Verse im Hirn, Schöpfungen erhabener Klassik. Solche Entsetzenspole liebt Trolle, Vers und Verbrechen, Poetologie und Killerinstinkt. Dichtung, frei von allen Zwängen einer Botschaftsvermittlung.
Trolle lächelt. Trolle schreibt. Trolle lebt in Gegenwelten, um die der Tod einen Bogen macht, solange Dichters Einsamkeit hält. Trolle wird heute siebzig.
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