Starke Frauen

Eleonora Hummel über eine schwere Kindheit

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 4 Min.

Die alten Fragen. »Woran ein Mensch zerbricht, und ob man ihn danach im Innersten wieder zusammenflicken kann. Warum es die Mütter sind, die den Verstand verlieren, wenn man ihnen die Kinder nimmt, selten die Väter.« Erst spät im Roman werden solche Fragen formuliert, aber eigentlich sind sie seine Quintessenz.

Zwei Frauen und ein Mädchen, das heranwächst, stehen im Mittelpunkt. Es geht um Erlebnisse in Russland, bzw. der Sowjetunion von 1954 (also kurz nach Stalins Tod) bis 1993, wobei die letzten Jahre schneller durcheilt werden. Zudem gibt es Rückblenden in die frühen 20er Jahre, weil die Vorgänge damals bestimmend für Kommendes gewesen sind.

Viktoria M. wächst in einem staatlichen Kinderheim in einer Siedlung bei Krasnojarsk mit streng geregeltem Alltag auf. Die Kinder sollen zu »guten, anständigen« Sowjetbürgern erzogen werden. Die Erzieherin liest den Kindern Geschichten über Wladimir Iljitsch Lenin vor. Später will Viktoria, genannt Vika, einmal Schichtleiterin in einer Schokoladenfabrik werden. Die meisten Kinder hier haben keine Eltern mehr. Vika hat zwar eine Mutter, aber die sitzt im Gefängnis. »Die Welt und die Mutter sind mir etwas schuldig«, denkt Vika. Sie stellt sich vor, die Mutter käme, dann wird sie zu ihr sagen: »Du kommst zu spät.«

Eines Tages bekommt Vika tatsächlich Besuch von einer älteren Frau. Nina Belikowa ist eine merkwürdige, ärmlich gekleidete, aber resolute Person. Sie war Vikas Mutter Olessia Lepanto in einem sibirischen Arbeitslager begegnet. Ninas kleines Mädchen war gestorben, Olessia hatte gegen jede Vernunft im Lager ein Mädchen geboren. Das hatte man ihr weggenommen. Als Nina entlassen wurde, versprach sie der Mutter, sich um das Kind zu kümmern. Nun tut sie es, und mit erstaunlicher Zähigkeit überwindet sie dabei alle behördlichen Schwellen.

Die Autorin erzählt im Wechsel aus den verschiedenen Perspektiven der Frauen. So wird auch Olessias Persönlichkeit und Schicksal deutlich. Aus reichem Petersburger Haus, hatte sie 1920 als Kind auf der Krim erlebt, wie der Vater verhaftet und erschossen wurde. Auch ihr wurden die »Verbrechen« des Vaters zum Verhängnis. Die Schauspielschülerin verurteilte man wegen angeblicher Spionage. Von anderer Herkunft und mit anderen Vorstellungen als Nina ist auch Olessia eine unbeugsame Frau. Später wird sie alles daran setzen, doch noch Schauspielerin zu werden, und sie wird um die Liebe ihrer Tochter ringen. Schließlich verlieren und gewinnen alle drei.

Eleonora Hummel, Russlanddeutsche aus Kasachstan, Preisträgerin für den Roman »Die Fische von Berlin«, erzählt fast Unvorstellbares und Alltäglich-Absurdes, gerät aber zuweilen in Klischees (muss auf der Krim unbedingt Marina Zwetajewa vorkommen?). Die Würdigung starker Frauen versöhnt wiederum mit den Schwächen des Buches.

Eleonora Hummel: In guten Händen, in einem schönen Land. Roman. Steidl Verlag. 365 S., geb., 22 €.

WOHER NUR solche Zärtlichkeit?
Die ersten sinds nicht, die Locken
Die ich dir streichle, auch Lippen
Hab ich schon dunklere gekannt.
Gehn auf und verlöschen Sterne,
Woher nur solche Zärtlichkeit?
Gehn auf und verlöschen Augen
Ganz nah mir an den meinen.
Noch nie hab ich solche Hymnen
Gehört in den dunklen Nächten,
Getraut – vor Zärtlichkeit! –
An ihn, an den Sänger geschmiegt.
Woher nur solche Zärtlichkeit?
Und was mit ihr tun, du Junge
Und Schelm, hergereister Sänger
Mit Wimpern die’s länger nicht gibt.


Voller Liebe und Leidenschaft war ihr Leben, voller Dramatik auch - und es endete tragisch, als unter Stalins Herrschaft ihr Mann erschossen und ihre Tochter inhaftiert worden war: Marina Zwetajewa, 1892 geboren, hat sich 1941, völlig verarmt und verzweifelt, erhängt. Unbekannt ihr Grab, berühmt ihr Werk. Die russische Lyrikerin durfte nicht fehlen im Band »Liebesgedichte aus aller Welt«, den Evelyne Polt-Heinzl und Christine Schmidjell bei Reclam herausgegeben haben (489 S., geb., 22,95 €).

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