»Ich fühle mich wie im Märchen«

Die deutsche Olympiaauswahl wird in Sotschi auch von russischsprechenden Freiwilligen unterstützt

  • Irina Wolkowa, Sotschi
  • Lesedauer: 4 Min.
In Sotschi sind derzeit 25 000 Freiwillige im Einsatz. Die meisten kommen aus Russland. Aber auch Deutsche, Spätaussiedler aus Russland und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, sind dabei.

Erschöpft aber glücklich nippen Sergej Gergert und Larissa Markus an ihrem Feierabendbier. »Ein kleines bitte«, trägt Larissa der Kellnerin bei der Bestellung auf. »Wir müssen morgen wieder früh raus«, sagt Sergej. Beide unterstützen in Sotschi die deutsche Olympiaauswahl als Volunteers: als Freiwillige. Das Besondere: Larissa, Sergej und ihre Kollegen sind Menschen mit Migrationshintergrund. Spätaussiedler aus Russland und den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Selbst inzwischen perfekt integriert, wollen sie ihre Erfahrungen nun an andere Migranten weitergeben.

Eigens dazu entwickelten der Landessportverband Baden-Württemberg und die Brandenburgische Sportjugend im Landessportbund Brandenburg das Programm »Integration durch Sport«. Dort wurde 2011 die Idee geboren, Menschen mit Migrationshintergrund als Freiwillige nach Sotschi zu schicken. Zu den Olympischen und Paralympischen Spielen, die im März stattfinden. 60 Teilnehmer aus neun Bundesländern schafften es in die Endrunde. Larissa Markus, die beim Landessportbund Brandenburg arbeitet und Sergej Gergert aus Stuttgart gehörten zu den Glücklichen. Vor zehn Tagen bezogen sie in Sotschi Quartier. Im Hotel »Koralle«, einer Bettenburg, die noch den Charme der Sowjetära versprüht. Der Bus, der sie zur Arbeit und nach Hause bringt, braucht selbst auf der Olympiaspur eine gute halber Stunde. Dennoch sind beide bestens gelaunt.

»Noch haben die Spiele nicht angefangen. Aber ich fühle mich schon jetzt wie im Märchen«, sagt der sonst eher bedächtige und ruhige Sergej. Der 42-jährige Vater zweier Kinder hat in der alten Heimat Karaganda in Nordkasachstan Geschichte studiert und in der neuen, in Tübingen, Sportwissenschaften. »Ein Traum« schreit Larissa Markus gegen die laute Livemusik an. Sie hat schon ein paar Souvenirs für zu Hause gekauft und macht fleißig Fotos. Ihre Ausbeute vom gerade zu Ende gegangenen Arbeitstag zeigt sie stolz. Neben ihr stehen der deutsche Snowboarder Johannes Hoebel und dessen Trainer. »Eigentlich«, sagt Larissa, »sollen wir die Sportler nicht ansprechen, die sollen sich konzentrieren. Aber er hat mich angesprochen, weil er wissen wollte, woher ich so gut Deutsch kann. Da habe ich ihm auch erzählt, dass ich schon zu Hause eine Karte für das Freestyle-Finale am 13. Februar gekauft habe.

Zuhause ist Larissa, auch sie kam aus Kasachstan, im brandenburgischen Michendorf. Dort hat die Diplomingenieurin für Landschaftsgestaltung inzwischen sogar eine Partnerschaft zu einer Gemeinde bei St. Petersburg auf den Weg gebracht. Klein, drahtig und von einer umwerfenden Fröhlichkeit steht sie irgendwie zwischen den Kulturen, wechselt abrupt vom Russischen ins Deutsche und erzählt von ihrem olympischen Traum. Wintersport sei in Nordkasachstan - in Astana, wo sie vor 39 Jahren zur Welt kam - sehr populär. Bei Temperaturen von bis zu minus 40 Grad und Flüssen, die schon im Oktober zufrieren, kein Wunder. Trotzdem hätten ihre Leistungen für eine Olympiaqualifikation nicht gereicht. Nun sei sie als Volunteer und als Fan hier. «Ich will unsere Sportler, also die deutschen, anfeuern und ihnen helfen, so viele Medaillen als möglich zu gewinnen.» Hochrot im Gesicht reißt sie sich die türkisfarbene Mütze der in allen Regenbogenfarben schillernden Volunteer-Uniform vom Kopf. Das Wort «unsere» spricht sie aus, dass es im Computerausdruck als fett und doppelt unterstrichen erscheinen würde.

Insgesamt sind in Sotschi rund 25 000 Freiwillige im Einsatz. Die meisten von ihnen kommen aus Russland. Berichte westlicher Medien über Zwangsverpflichtungen weist Larissa mit Empörung zurück. «Alle, mit denen ich zu tun hatte, haben sich freiwillig gemeldet und schwer um einen Platz kämpfen müssen.» Die Arbeit sei manchmal hart, aber die Bedingungen exzellent. Erstmals bei Olympischen Spielen, sagt Sergej, würden die Gastgeber auch alle Kosten für die Volunteers übernehmen. In London hätten sie sich sogar selbst um einen Schlafplatz kümmern und die Anreise aus eigener Tasche bezahlen müssen. Das Essen sowieso. «Hier dagegen», schwärmt Larissa, «kriegen auch die, die erst nachts um zwölf von der Schicht kommen, ein warmes und frisch zubereitetes Abendessen. Und wer will, bekommt Milchbrei zum Frühstück.» Gries, Reis, Hirse. Das ist eine Besonderheit der russischen Küche. «Für mich ist das total lecker. Da kommen schöne Erinnerungen an die Kindheit hoch.»

Viel habe sich in Russland in den zwanzig Jahren seit der Übersiedlung nach Deutschland verändert, sagt sie. Die Menschen hätten keine Angst mehr vor der Zukunft. Schön wäre es jedoch, wenn ein paar alte Werte bleiben würden: Herzlichkeit, Gastfreundschaft, Zusammenhalt der Familien und Respekt vor Älteren. Das fehle in Deutschland manchmal, meint auch Sergej. Bei aller Kritik an Russland sollte man sich daher manchmal auch an die eigene Nase fassen.

Sergej sagt, er habe am Mittwoch bei der Generalprobe für die Eröffnungsfeier am Freitag die Rolle des Bannerträgers der deutschen Mannschaft übernehmen dürfen. «Ich war so stolz, es war ein unvergesslicher Moment.» Und sie, sagt Larissa, die mit 40 000 anderen auf den Rängen saß, sei «so stolz auf unseren Sergej» gewesen. Eines könne sie aber noch immer nicht verstehen: Warum muss man sich in Deutschland für Patriotismus schämen?

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