Schwerer Tag auf schwerem Eis
Tränen bei Claudia Pechstein, die beim ersten Start in Sotschi nur knapp Bronze verpasst
Die übliche Auslaufrunde schaffte Claudia Pechstein nicht mehr. Sie hatte sich so verausgabt, dass sie noch schnell zum Inhalator griff und sich damit auf die nächstbeste Bank schmiss. »Dass ich alles gegeben habe, hat jeder gesehen«, sagte Pechstein eine halbe Stunde später. Sie konnte noch immer keine langen Sätze sprechen. Doch es war nicht mehr die Lunge, die schmerzte, sondern die drei Frauen, die in Sotschi über 3000 Meter am Sonntag schneller waren als die Berlinerin. »Vierter Platz ist natürlich Scheiße. Ich wusste, zwischen eins und sechs ist alles drin, und jetzt bin ich Vierte. Scheiße!« Das Wort kam ihr noch ein paar Mal über die Lippen, dann kullerten die Tränen.
Den Sieg hatte sich wie erwartet Weltmeisterin Ireen Wüst aus den Niederlanden geholt vor der Titelverteidigerin Martina Sablikova aus Tschechien. Hinter den beiden Favoritinnen hatte Pechstein eigentlich auf Bronze gehofft, aber »Olga Graf ist heute das Rennen ihres Lebens gelaufen. Das versuche ich dann bei den 5000 Metern zu machen«, sagte die erfolgreichste Winterolympionikin Deutschlands.
Pechsteins Pech war das Glück jener Olga Graf und damit das ganz Russlands, denn die 30-Jährige gewann die erste Medaille der Gastgeber in Sotschi. »Ich habe mich nicht auf das Ergebnis konzentriert, sondern nur auf meinen Lauf. Ich denke, das war der Schlüssel zur Medaille heute«, sagte Graf. »Auf den letzten Metern waren die Fans so laut. Ich hätte nicht erwartet, dass man das Publikum so stark spüren würde. Ich wollte unbedingt etwas von dieser Energie an sie zurückgeben und bin nationalen Rekord gelaufen.«
Von den Emotionen überwältigt, vergaß Graf sogar kurz, dass sie an diesem Tag alles für den Erfolg getan hatte. »Ich wollte unbedingt gut atmen können«, erklärte sie, warum sie unter ihrem Rennanzug nichts weiter angezogen hatte. »Als ich den nach dem Rennen öffnete, dachte ich: ›Oh Mann, das ist jetzt bestimmt gleich auf Youtube zu sehen.‹ Aber ich habe den Reißverschluss schnell wieder zugemacht.«
Der deutsche Teamchef Helge Jasch erklärte sich Grafs Vorsprung vor Pechstein nicht mit Kleidungstricks, sondern mit dem Heimvorteil, auch wenn die Bahn im Olympiapark von Adler genauso 400 Meter lang ist wie alle anderen auf der Welt. »Sie hat die meiste Erfahrung auf der Bahn, weiß, wie sie hier laufen muss, denn dieses Eis war sehr schwer«, sagte Jasch. »Bis zur vierten Runde war Claudias Lauf technisch gut, danach wurde es problematisch und sie verlor auf den Geraden die Sekunden, die ihr am Ende zur Medaille gefehlt haben.«
Auch Pechstein gab zu, mit der Bahn so ihre Probleme gehabt zu haben: »Das Eis ist sehr, sehr schwer. Olga musste zehn Schritte auf der Geraden machen, aber ich bin keine, die so einfach zehn Schritte laufen kann. Das ist nicht mein Stil. Und deshalb bin ich so enttäuscht, weil ich nicht zeigen konnte, was ich im Training geschafft habe«, sagte die 41-Jährige, die in Sotschi jene Medaillen erkämpfen will, die ihr ihrer Meinung nach in Vancouver aufgrund einer Dopingsperre gestohlen worden waren. Bislang konnte Pechstein noch von allen fünf Spielen, bei denen sie startete, eine Medaille mitbringen.
Der Siegerin Ireen Wüst gelang das nun als erster Niederländerin bei drei verschiedenen Spielen. »Als ich in Turin 2006 Gold gewann, hatte noch niemand mit mir gerechnet. Doch hier war ich Favoritin: 17 Millionen Niederländer wollten, dass ich gewinne. Das habe ich schon gespürt«, beschrieb Wüst den großen Druck, der auf ihr lastete. Die 27-Jährige läuft übrigens mit Sven Kramer in einem Team, und der 5000-Meter-Olympiasieger hatte bei dem schweren Eis noch einen guten Tipp für sie parat: »Mach bloß keine verrückten Sachen! Starte nicht zu schnell!« Die Taktik ging auf.
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