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Innovation und Interesse
Wolfgang Storz zur Entwicklung neuer Technologien
Diese Gesellschaft starrt auf Dschungelcamp, Rentenreform, Einsatz in Mali oder Straßenmaut. Diese Themen sind Peanuts verglichen mit den technischen Innovationen, die uns bereits bedrängen und bald überrollen können. Es geht um die Technik der Digitalisierung und dabei nicht nur um den Überwachungswahn, den das Internet wahr werden lässt.
Seit Jahren wird in den Forschungs- und Entwicklungszentren der großen Konzerne am Internet der Dinge, an der Industrie 4.0 gearbeitet: Mit dem großflächigen Einsatz von Elektronik und IT in Industrieproduktion und Logistik wird die vierte industrielle Revolution vorbereitet. Die Broschüren sind bunt, die Münder verkünden Verheißungen: Der Mensch werde in seiner komplexer werdenden Arbeit unterstützt. Maschinen steuern Maschinen, Autos steuern sich, sogar im Gesundheits- und Pflegebereich arbeiten bald Roboter. Die totale Vernetzung.
Vor etwa 30 Jahren gehörte das folgende sperrige Wort noch zum Alltag öffentlicher Debatten: Technikfolgenabschätzung - es war selbstverständlich, die in der Entwicklung sich befindlichen Innovationen wissenschaftlich auf ihre potenziellen gesellschaftlichen Folgen zu untersuchen und die Befunde der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Heute zählt es zum untergegangenen vergessenen Vokabular.
Der weißrussische Wissenschaftler Evgeny Morozov, der sich bereits seit Jahren mit dem Einfluss des Internet auf Gesellschaften beschäftigt, argumentierte jüngst im Feuilleton der »Frankfurter Allgemeine Zeitung«: Jede Technik werde nach den Interessen derjenigen eingesetzt, die das Geld und die Macht haben. Er nennt als Beispiel ein neues System zur biometrischen Identifizierung: Wer an dessen »guten Einsatz« glaube, der verdränge das öffentliche Wissen um den Expansionsdrang des Sicherheitsstaates und die Logik des Datensammelns der biometrischen Industrie. Morozov plädiert deshalb für öffentlich zu verhandelnde voraussagende Bewertungen, »ob eine bestimmte Technologie sich in den Rahmen des Emanzipations- oder in den des Versklavungsprojektes einfügt«.
Ich füge an: Eine technische Innovation wird nicht nur nach den aktuellen Interessen der jeweils treibenden wirtschaftlich und politisch Mächtigen eingesetzt, es werden wohl nur die Techniken das Licht der Öffentlichkeit überhaupt erblicken, die diesen Interessen entsprechen. Wo wird denn das technische Neue entwickelt? In den Forschungszentren der weltweit agierenden Großkonzerne, inzwischen gigantische Anballungen von teilweise untereinander verflochtenem privatem Produktivkapital, und in den zunehmend von den Drittmitteln der Wirtschaft abhängigen privaten und öffentlichen Universitäten. Das sind die Treiber, die entscheiden, was erfunden und für welche Zwecke es zugerichtet wird.
Der Wissenschafts- und Technikforscher Bruno Latour beschäftigte sich intensiv mit dem Zusammenspiel von Menschen und den von Menschen hergestellten Dingen. Eines seiner Beispiele: Ein Mann tötet einen anderen mit einer Waffe. Wer hat getötet: die Waffe oder der Mann? Sein Hinweis: Jedes Ding habe seinen Aufforderungscharakter, sein Skript. Wer verantwortet den Unfall eines vollautomatisierten Autos? Oder: Vielfach belegt ist, wie allein die banale Einführung von Smartphones Arbeit und Kommunikation in Organisationen und im privaten Bereich grundlegend und mit tiefgehenden Folgen geändert hat.
Also: Technik hat viel zu sagen. Und sie wird zudem gerne missbraucht, um die Zukunft - leider, leider, heißt es dann - als mit Sachzwängen alternativlos zugemauert zu skizzieren.
Wie heil- oder schadenbringend dieser nahende technische Tsunami sein wird, kann ich nicht beurteilen. Es wäre jedoch haarsträubend fahrlässig, würden Politik, Medien und die weitere Öffentlichkeit nicht eine systematische Technikkritik zu einem ihrer ganz großen Themen machen. Wer aus dieser Sicht auf die Politik schaut, erkennt auch, wie entpolitisierend sich Politik und Medien immer noch organisieren: Innenpolitik, Außenpolitik, Landwirtschaftspolitik, Familienpolitik ..., nach diesen Kapiteln einer überkommenen Welt organisieren nicht nur Regierungen, sondern auch Opposition und Medien ihre Arbeit. Tja, da fällt halt durch den Rost, was da nicht reinpasst ...
Wolfgang Storz war bis 2006 Chefredakteur der »Frankfurter Rundschau« und arbeitet seither als Berater und Publizist.
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