An der Wiege des Hercules Sägemann
Die New-York Hamburger Gummiwaaren Compagnie ist ein Stück Industriegeschichte - heute verfällt die Fabrik
Zerschlagene Fenster, marodes Mauerwerk, verlassene Fabrikräume: Die leer stehenden Bauten der einstigen New-York Hamburger Gummiwaaren Compagnie AG im Harburger Binnenhafen wirken gespenstisch. Wie eine Kulisse für einen besonders düsteren »Tatort«. Dennoch: Generationen von Arbeitern, Arbeiterinnen und Angestellten haben hier jahrzehntelang gelebt, produziert, gelacht und sicherlich auch geflucht. Denn die Arbeit war nicht leicht, bot aber über Jahrzehnte vielen Harburger Familien Lohn und Brot. »Gummi-Kamm« hieß die Firma im Volksmund, viele nennen sie auch heute noch so.
2009 zog das Unternehmen mit nur noch 160 Mitarbeitern nach Lüneburg. Die Kosten für den verschachtelten Komplex zwischen Neuländer Straße und Nartenstraße wuchsen dem Unternehmen über den Kopf. Seit Jahren wird über Abriss oder Erhalt debattiert, Teile der denkmalgeschützten Gebäude sind mit giftigen Nitrosaminen verseucht.
Vor rund 40 Jahren arbeitete auch der Harburger Hans-Jürgen Koschnick (61) als Betriebsschlosser bei der »Gummi-Kamm«. Im Jahr 1971 hatte er gerade seine Lehre als Maschinenbauer beendet und suchte nach einem neuen Job. »Ich hatte mich mit meinem Lehrmeister bei der Maschinenfabrik Hans Nordwig überworfen«, erinnert sich Koschnick. »In die Gummiwaaren Compagnie kam man damals nur über Beziehungen rein.« Und entsprechend entstand auch sein Kontakt zu dem Chemieunternehmen: »Ein Geselle von Nordwig hatte mit einem Meister von der ›Gummi-Kamm‹ gesprochen. Der hatte gesagt, ich solle mich mal vorstellen.«
Genauso lief es auch: ohne schriftliche Bewerbung, ohne die heute üblichen Formalitäten. »Ich bin zum Personalchef gegangen, und der sagte nur: ›Du hast also bei Hans Nordwig gearbeitet?‹ - Meine Lehrfirma hatte einen guten Ruf - und deshalb haben sie mich genommen.«
Tausenden von Friseuren in aller Welt ist er ein Begriff: der Hercules Sägemann, ein Kamm der besonderen Qualität, wie er bis heute produziert wird. Hergestellt wurde der Hartgummikamm ursprünglich von der Harburger »Gummi-Kamm«-Compagnie. Sie gilt mit dem Gründungsjahr 1856 als erste Hartgummifabrik Deutschlands. 1930 wurde sie von den »New Yorkern« übernommen, die sich 1871 von den Harburgern abgespaltet hatten und 1873 in Hamburg-Barmbek einen Konkurrenzbetrieb eröffneten. Das beschreibt der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Jürgen Ellermeyer in seinem 2006 erschienenem Buch »Gib Gummi!«. Schon früh wurden weitaus mehr Produkte als nur Kämme produziert - wie etwa Hartgummirohre für Füllfederhalter oder Klarinettenmundstücke. Das »New York« im Firmennamen wurde eingefügt, weil die Gründungsväter des Unternehmens Fertigungsrechte für Hartgummi von dem Industriepionier Goodyear erworben hatten und geschäftliche Kontakte in die USA unterhielten.
»Bei ›Gummi-Kamm‹ gab es sieben Mark die Stunde, bei meiner alten Firma bekam ich als Geselle nur fünf Mark«, rechnet Koschnick vor, der sich seit Längerem mit der Geschichte des Hamburger Stadtteils Harburg beschäftigt. »Unsere Aufgabe als Betriebsschlosser war es, den technischen Ablauf aufrechtzuerhalten«, erzählt er. »Trat in einer Maschine ein Fehler auf, wurde das dem Meister oder Vorarbeiter der Betriebsschlosserei gemeldet. Häufig waren wir zu zweit unterwegs, das war Teamarbeit, aber nicht so stressbehaftet wie heutzutage.« Dauerstress hatten hingegen die Mitarbeiter in der Kammproduktion, darunter viele Frauen, die im Akkord arbeiteten.
Daran erinnert sich auch Heino Hübbe, der von 1960 bis 2005 ebenfalls bei der »Gummi-Kamm« beschäftigt war, zunächst als Maschineneinrichter. Hübbes Familie arbeitete in mehreren Generationen in der Fabrik. Der 73-Jährige erinnert sich noch an den Geruch von Kautschuk und Schwefel. »Bei der Gummiherstellung entstand Dampf, der nach außen abgelassen wurde. Dadurch entstand der Gestank, das roch wie faule Eier.« Bei Westwind beschwerten sich die Kleingärtner. Zuletzt wurde nur noch nachts Dampf abgelassen.
Mit dem Umzug der Gummiwaaren Compagnie von Harburg nach Lüneburg liegt nun ein riesiges Areal brach - auch ein Zeichen für den Strukturwandel in der Industriegesellschaft, so Historiker Ellermeyer: »Die Arbeitsplätze der alten Art mit vielen Ungelernten werden zunehmend in Billiglohnländer ausgelagert.« Der Wissenschaftler plädiert für den Erhalt des Gebäudeensembles. »Hier handelt es sich um die älteste noch bestehende Hartgummifabrik Europas, der älteste Gebäudeteil stammt aus den Jahren 1866/1867. Das ist in Harburgs Industrielandschaft schon eine Seltenheit.«
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