Ukraine vor der Zerreißprobe

Der Westen macht klare Schuldzuweisungen, aber sträflich Versäumtes nicht wett

  • Klaus Joachim Herrmann
  • Lesedauer: 3 Min.
Bei allem Entsetzen waren dem Westen am Tag nach den tödlichen Auseinandersetzungen in Kiew Vorgeschichte und Hintergründe keine Betrachtung wert.

Die Schuldzuweisung des Westens an die Führung in Kiew kam prompt und eindeutig. Die Folgerung ebenso: Druck machen! Der soll besonders Präsident Viktor Janukowitsch treffen, gern auch den Kremlchef Wladimir Putin. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton will »alle möglichen Optionen« für Strafmaßnahmen prüfen.

Die sollten »rasch und gezielt« eingesetzt werden, erklärte Frankreichs Präsident Hollande. Da war er sich schon mit dem polnischen Premier Donald Tusk einig und wollte es danach auch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel werden. Deren Außenminister Frank-Walter Steinmeier ließ vorauseilend wissen, man könne Vermögen einfrieren und Einreisesperren in die EU verhängen. Die EU blieb bei ihrer unversöhnlichen Parteinahme. Die Ukraine steht unmittelbar vor ihrer lang befürchteten Zerreißprobe.

Nur zuweilen wurde noch daran erinnert, dass es den Demonstranten um die Hinwendung des Landes nach Europa gehe. Dem hatte der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch am 21. November des Vorjahres ja eine Absage erteilt. Das lange ausgehandelte Abkommen zur Zusammenarbeit mit der EU legte er auf Eis und wandte sich Russland zu. Das ist ein Nachbar der Ukraine, mit dem sie viele Gemeinsamkeiten hat. Die reichen mit der Kiewer Rus bis zu den Urgründen der Staatswerdung.

Die EU war blamiert, entsetzt und völlig verblüfft. Dabei hatte sie einfach nicht ihre Hausaufgaben gemacht. Dafür aber die Führung in Kiew. Die Ukraine steckt tief in wirtschaftlichen und finanziellen Problemen. Russland ist der traditionelle Partner, die Wirtschaften sind verflochten. Abgewogen wurden Kosten und Nutzen. Die EU stellte gut 600 Millionen Euro Hilfe in Aussicht. Der Kreml aber senkte den Gaspreis und bot eine Finanzhilfe von 15 Milliarden Dollar. Davon gehen dieser Tage weitere zwei Milliarden nach Kiew.

Nicht wenige Ukrainer sahen sich allerdings um eine Zukunft näher am Westen, Hoffnungen auf bessere Lebensbedingungen, weniger Korruption und mehr Demokratie betrogen. Sie wählten den Unabhängigkeitsplatz für ihre Demonstration.

Nicht bei der eigenen Führung, aber in den westlichen Hauptstädten fanden der Protest Gehör und Unterstützung. Vorgebliche Vermittlungsmissionen US-amerikanischer und europäischer Spitzenpolitiker gerieten zu demonstrativer Parteinahme. Sträflich Versäumtes sollte mit wachsendem Druck auf die Kiewer Führung wettgemacht werden. Selbstgefällig bastelte man an neuen Regierungen. Bislang vergebens.

Präsident Janukowitsch wird von Gegnern und weithin medial als das Böse schlechthin dargestellt. Mag schon sein. Doch vor allem bleibt die Ukraine in ihrer geopolitischen Schlüsselposition. Sie ist hart umstritten zwischen der EU sowie den USA und Russland - alte Rivalen aus dem Kalten Krieg der Supermächte. Wollte die EU nicht nur sich selbst, sondern eben der Ukraine Gutes tun, wäre das von ihr zu bedenken und, besser noch, darüber gemeinsam mit den Beteiligten zu reden gewesen. Es ließe sich immerhin nachholen.

Ohne Russland werde es keine Lösung in der Ukraine geben, weiß jedenfalls LINKE-Fraktionschef Gregor Gysi. Es sei falsch gewesen, von ihr zu verlangen, sich zu einer Seite zu bekennen. Dieses Land müsse eine Brücke sein. Den Vorschlag zur Vermittlung lehnte Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) ab. Aber die große Sorge, »dass die Ukraine sich spalten könnte«, sollte unverzüglich geteilt werden.

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