Die Stärke des Rechts

Gastbeitrag von Alexander Schwarz, European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR)

  • Alexander Schwarz
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Internationale Strafgerichtshofs in Den Haag
Der Internationale Strafgerichtshofs in Den Haag

Die Gleichheit vor dem Recht – sie wird gewahrt. Zumindest macht die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) deutlich, dass eine regelbasierte Weltordnung nicht vom Recht des Stärkeren, sondern von der Stärke des Rechts geprägt ist. Drei Richter aus Frankreich, Slowenien und Benin haben gestern einstimmig entschieden, dass der israelische Premier Benjamin Netanyahu, sein ehemaliger Verteidigungsminister Yoav Gallant und der Hamas-Führer Mohammed Deif der Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verdächtig sind. Diese beispiellose Entscheidung durchbricht die bislang nicht ganz unberechtigte Vermutung, das Völkerstrafrecht werde in Den Haag nur dann in Stellung gebracht, solange es sich nicht gegen Verbündete des Westens richtet. Zugleich wird der Beweis angetreten, dass das Völkerrecht mehr ist als das Beiwerk internationaler Machtpolitik, zu dem es seine Gegner gerne degradieren.

Dabei wurde viel getan, diesen wichtigen Schritt zu verhindern. Nicht nur hatte die Trump-Administration bereits 2019 Sanktionen gegen die ehemalige Chefanklägerin des IStGH erlassen. Auch Israel hatte eine Kampagne geführt, um die Ermittlungen zu untergraben. Eine globale Rechtsordnung lässt sich aber nur dann etablieren, wenn tatsächlich gleiches Recht für alle gilt – ohne Ansehen der Person.

Der Autor

Alexander Schwarz ist stellvertretender Programmleiter »Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung« beim Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR).

Zugleich war die bisherige Praxis des Völkerstrafrechts selbst von Doppelstandards und selektiver Strafverfolgung geprägt. Das Projekt einer universellen Strafjustiz drohte zeitweise an seinen eigenen Ansprüchen zu scheitern, lebt es doch von der Erwartung, dass kollektive Unrechtserfahrungen als solche benannt und Völkerstraftaten entsprechend verfolgt werden. Angesichts des Ausmaßes der Verbrechen der israelischen Armee an der palästinensischen Bevölkerung muss dem System vorgeworfen werden, dass die offensichtliche Rechtswidrigkeit bestimmter Operationen, wie etwa der Bombardierung ziviler Ziele, nicht längst zu einer Anklage geführt hat.

Dass sich die erlassenen Haftbefehle laut Pressemitteilung des Gerichts – der Wortlaut der Haftbefehle selbst ist bislang nicht veröffentlicht und könnte aus ermittlungstechnischen Gründen auch geheim bleiben – nicht nur auf Kriegsverbrechen, sondern auch auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit erstrecken, macht deutlich, dass etwa die vorsätzlichen Tötungen von Palästinensern, nicht nur vom Chefankläger des IStGH, sondern auch von den Richtern der Vorverfahrenskammer als systematische Angriffe auf die palästinensische Zivilbevölkerung gewertet werden – ein besonders schwerwiegender Vorwurf.

Damit diese Normen aber mehr als Symbolpolitik sind, muss es Gerichte geben, die bereit sind, diese Normen gegen Widerstand durchzusetzen. Und es muss Staaten geben, die bereit sind, die Bewegungsfreiheit derjenigen einzuschränken, die im Verdacht stehen, schwerstes völkerrechtliches Unrecht begangen zu haben. Es wäre daher ein Skandal, wenn die deutschen Behörden trotz ihrer völkervertraglichen Verpflichtung, die Haftbefehle im Anwendungsfall nicht vollstrecken würden.

Deutschland darf nicht ein weiteres Mal den Fehler machen, sich dem politischen Druck zu beugen. Im Gegenteil: Die Entscheidung aus Den Haag könnte der unter Völkerrechtlern in Ungnade gefallenen Bundesregierung sogar den Rücken stärken, vorausgesetzt sie versteht die Haftbefehle als das, was sie sind: verbindliche Rechtsakte einer unabhängigen internationalen Strafjustiz. Anstatt weiterhin daran zu arbeiten, ihre völkerrechtliche Glaubwürdigkeit zu verspielen, sollte sich die Bundesregierung konstruktiv auf die Autorität des Haager Richterspruchs berufen.

Deutschland sollte spätestens jetzt im europäischen Verbund mit der Mehrheit der lateinamerikanischen und afrikanischen Staaten ein Gegengewicht zu den USA, aber auch zu Russland und China bilden, die alle auf ihre Weise den Weltstrafgerichtshof delegitimieren. Dazu würde auch gehören, Waffenlieferungen nach Israel umgehend einzustellen. Damit könnte das Recht als Faktor der internationalen Politik gestärkt werden. Hierfür müsste allerdings das Verständnis der deutschen Staatsräson neu ausgerichtet werden. Nicht das Recht muss sich der Politik unterwerfen, sondern die Politik dem Recht. Es bleibt zu hoffen, dass die Haftbefehle aus Den Haag hierfür Maßstäbe setzen, an die sich die Bundesregierung gebunden fühlt.

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