Kampf um Kiew

Über 60 Todesopfer seit Beginn der Straßenschlachten / EU und Russland vermitteln

  • Roland Etzel und Klaus Joachim Herrmann
  • Lesedauer: 3 Min.
Die ukrainische Hauptstadt blieb am Donnerstag blutig umkämpft. Ein Waffenstillstand brach rasch. Der Konflikt um den künftigen ukrainischen Weg forderte erneut zahlreiche Todesopfer. Der Gewalt wollten Vermittler trotzen - aus der EU und auch aus Russland.

Die Vermittler der EU, die vor allem Druck auf die Führung um den ukrainischen Präsidenten machen wollten, gerieten am Donnerstag mitten in die Krise. Sie konnten wegen der explosiven Lage in der Hauptstadt Kiew erst auf Umwegen und verspätet zu Viktor Janukowitsch gelangen. Der ließ am Abend noch einen weiteren Vermittler in Marsch setzen - von Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Damit hätten sich beide Seiten des Konfliktes einflussreicher Unterstützer versichert.

Deren Mission gewann nach einem weiteren im Wortsinne umkämpften Tag an Brisanz und Dramatik. So hatten in den Morgenstunden radikale Demonstranten Ordnungskräfte mit Gewalt in die Flucht geschlagen und ihre Positionen auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) im Zentrum wieder eingenommen.

Beide Seiten klagten an, Scharfschützen hätten entweder Ordnungskräfte oder Regierungsgegner unter Feuer genommen. Seit Beginn der massiven Zusammenstöße am Dienstag wurden nach offiziellen Angaben mindestens 64 Menschen getötet. Das Gesundheitsministerium teilte mit, mehr als 550 Menschen seien verletzt worden. Vertreter der radikalen Regierungsgegner gaben hingegen an, dass am Donnerstag mehr als 60 Demonstranten getötet worden seien.

»Auf den Straßen werden nicht nur Einsatzkräfte, sondern auch friedliche Bürger getötet, in Kiew und westlichen Regionen haben gewaltsame Ausschreitungen begonnen«, erklärte Innenminister Vitali Sachartschenko. Er sprach zu diesem Zeitpunkt von drei toten Milizionären und 50 Verletzten. 67 Polizisten seien von radikalen Kräften gefangen genommen worden. Die Sicherheitskräfte erhielten nach seinen Angaben Schusswaffen für den »Anti-Terror-Einsatz«. Die Waffen dürften in Übereinstimmung mit dem Gesetz mit scharfer Munition eingesetzt werden, sagte er. Die Regierungsgegner wurden von ihm aufgefordert, ihre Waffen niederzulegen und zu friedlichem Protest zurückzukehren. Die Oppositionsführer müssten sich von »radikalen Handlungen« distanzieren.

Die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens ließen nach ihrem vierstündigen Gespräch mit Präsident Janukowitsch vorsichtig durchblicken: »Ansätze für Fortschritte sind vorstellbar.« Außenminister Frank-Walter Steinmeier kündigte an, man wolle noch einmal mit der Opposition reden. Mehr Einzelheiten gab es nicht. Steinmeier wird von den Außenministern des sogenannten Weimarer Dreiecks, Laurent Fabius aus Frankreich und Radoslaw Sikorski aus Polen, begleitet.

Aus Moskau machte sich derweil als Vermittler der scheidende Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin auf den Weg nach Kiew. Er solle an Gesprächen zwischen Führung und Opposition teilnehmen, informierte der Sprecher von Präsident Putin. »Außenminister Sergej Lawrow bestätigte die Position Russlands, das sich für eine «ausschließlich verfassungsmäßige Regelung der Krise in der Ukraine einsetzt unter Respektierung der Vollmachten und der Kompetenzen der ukrainischen Regierung», so eine Mitteilung des Außenamtes.

Die Außenminister der Europäischen Union einigten sich noch am Abend auf die Verhängung von Sanktionen gegen die Verantwortlichen für die Gewalt in der Ukraine. Bei ihrer Sondersitzung in Brüssel beschlossen die Diplomaten am Donnerstag Einreiseverbote sowie das Einfrieren von Konten, wie die italienische Außenministerin Emma Bonino sagte. Die Entscheidung sei in enger Abstimmung mit den in Kiew verhandelnden Außenministern getroffen worden. Eine Liste mit Namen wurde jedoch noch nicht aufgestellt, sagten EU-Diplomaten.

In einer Bundestagsdebatte über die Eskalation der Gewalt in der Ukraine kam es in Berlin zu heftigem Streit zwischen den Oppositionsparteien. Als Redner der LINKEN der ukrainischen Opposition faschistische und antisemitische Tendenzen vorwarfen, wurde der Konflikt parallel zur Plenardebatte auch auf dem Kurznachrichtendienst Twitter ausgetragen. Die LINKE-Abgeordnete Sevim Dagdelen twitterte: «Unerträglich diese verwelkten Grünen, die die Faschisten in der Ukraine verharmlosen, die antisemitische Übergriffe begehen.» Die Grünen-Abgeordnete Britta Hasselmann verlas diesen Tweet und nannte ihn ihrerseits unerträglich.

Nach einem Krisengespräch in der ukrainischen Olympiamannschaft reist NOK-Chef Sergej Bubka zufolge keiner der Sportler vorzeitig aus Sotschi ab. Zuvor hatten Skirennläuferin Bogdana Mazozka und ihr Vater, Trainer Oleg Mazozki, erklärt, die russische Stadt aus Protest gegen das Vorgehen der Regierung in Kiew gegen die Opposition verlassen zu wollen. Mit Agenturen

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