Lenin-Statuen in zwei Dutzend Städten gestürzt

Teile der Opposition übernehmen Kiew / Rechter Sektor macht in Kiew Front

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Kiew. Ungeachtet der Vereinbarung mit der Regierung haben Gegner des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch offenbar die Macht in Kiew ergriffen. So genannte Selbstverteidigungskräfte hätten die Kontrolle über das Parlament, den Regierungssitz und die Präsidialkanzlei übernommen, sagte Andrej Parubij, der Kommandant des Protestlagers, am Samstagmorgen auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) Diese Teile der Opposition wollen sich offenkundig nicht an das von der EU vermittelte Abkommen zu einer politischen Lösung des Konflikts halten.

Bereits am Freitag hatten Zehntausende in Kiew die Oppositionsführer nach der Einigung auf eine Krisenlösung mit Pfiffen und Buhrufen empfangen. Der Anführer der radikalen Splittergruppe Rechter Sektor, Dmitri Jarosch, kündigte an, nicht die Waffen niederzulegen, bevor der Staatschef zurücktrete. Anderer Redner drohten damit, die Präsidialverwaltung zu stürmen. Der Opposition um Vitali Klitschko warfen sie »Verrat« vor. Die Menge auf dem Unabhängigkeitsplatz forderte in Sprechchören den Kopf des Präsidenten: »Tod dem Knastbruder!« Janukowitsch hatte als Jugendlicher wegen Raubüberfalls in Haft gesessen.

Janukowitsch selbst soll angeblich in die ostukrainische Millionenstadt Charkow abgereist sein. Dort könnte er Berichten zufolge an einem Kongress der Ukrainischen Front teilnehmen, zu der sich Delegierte aus dem prorussischen Osten und Süden der Ex-Sowjetrepublik versammeln. Nach anderen Berichten hat Janukowitsch dagegen das Land verlassen.

Der ukrainische Parlamentschef Wladimir Rybak hat inzwischen seinen Rücktritt erklärt. Das gab sein Stellvertreter Ruslan Koschulinski am Samstag in der Obersten Rada in Kiew bekannt. Rybak, ein Vertrauter von Präsident Janukowitsch gab gesundheitliche Gründe für den Schritt an.

Zuvor hatten Janukowitsch und Oppositionsführer ein von der EU vermitteltes Abkommen zur Lösung der Staatskrise unterzeichnet. Die Oberste Rada setzte danach umgehend erste Beschlüsse durch. So soll die Rückkehr zur Verfassung von 2004 die Machtfülle des Staatschefs erheblich beschneiden - eine Kernforderung der Opposition. Zudem brachte das Parlament ein Gesetz für eine Freilassung der inhaftierten Oppositionsführerin Julia Timoschenko auf den Weg. Allerdings muss Janukowitsch diese Beschlüsse noch unterzeichnen.

In einer ersten Reaktion auf den Friedensschluss äußerten Kremlchef Wladimir Putin und US-Präsident Barack Obama bei einem Telefonat ihre Hoffnung auf eine rasche Stabilisierung der Lage in der Ukraine. Putin habe bei dem Gespräch in der Nacht zum Samstag betont, dass besonders die Auseinandersetzung mit der radikalen Opposition wichtig sei. »Sie hat die Konfrontation in der Ukraine an eine gefährliche Linie gerückt«, sagte Putin nach Kremlangaben.

Derweil harrten Tausende Menschen in der Nacht auf dem Maidan in Kiew aus. Sie kritisieren, ein vorläufiges Abkommen Janukowitschs mit der parlamentarischen Opposition sei nicht ausreichend. Darin hatten die Konfliktparteien unter EU-Vermittlung vorgezogene Präsidentenwahlen, eine Übergangsregierung und eine neue Verfassung vereinbart.

In den vergangenen Tagen waren bei Zusammenstößen von Regierungsgegnern mit der Polizei in Kiew mindestens 77 Menschen getötet worden. »Wir fordern den sofortigen Rücktritt des Präsidenten«, sagte Parubij. Falls Janukowitsch offiziell zurücktreten sollte, übernähme laut Verfassung der Regierungschef die Führung des Landes. Dieses Amt hat derzeit kommissarisch Sergej Arbusow inne, der als Vertrauter Janukowitschs gilt.

»Jetzt kontrolliert der Maidan ganz Kiew«, behauptete Parubij, der Abgeordneter der Vaterlandspartei der inhaftierten Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko ist. Die sogenannten Selbstverteidigungskräfte fuhren in Lastwagen durch das Regierungsviertel. »Wir haben den Polizisten gesagt, dass sie zum Maidan überlaufen können, und wir sind zu gemeinsamen Patrouillen bereit«, sagte Parubij. Die Sicherheitskräfte hatten das Stadtzentrum am Vorabend verlassen. Das Parlament sollte dennoch an diesem Samstag erneut zusammenkommen. Die Abgeordneten hatten am Vorabend erste Beschlüsse durchgepeitscht und auch für ein Gesetz gestimmt, das den Weg für Timoschenkos Haftentlassung frei macht.

In rund zwei Dutzend Städten stürzten Regierungsgegner Statuen des sowjetischen Revolutionsführers Lenin. Er gilt ihnen als Symbol des alten Regimes, dessen Vertreter noch im sowjetischen System groß geworden sind.

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